DIE WEISSE RABIN

Eine schamanische Reise zur Quelle meiner Kraft

 

Wer weiß?

Nur eine ein­zi­ge anders gewähl­te Abzwei­gung und mein Leben wäre wohl ganz anders ver­lau­fen. Wenn ich mir vor­stel­le, wie alles anfing, kommt mir die­ses Aben­teu­er, das mein Leben gewor­den ist, immer noch fan­tas­tisch vor.

Jedes Mal, wenn ich an der hohen Mau­er der Ner­ven­heil­an­stalt vor­bei­fah­re, über­kommt mich ein Schau­dern. Auch die­se Abzwei­gung hät­te mei­ne wer­den kön­nen. Dann wäre die­se wei­ße Schran­ke die Gren­ze mei­ner Welt gewor­den. Statt­des­sen über­schritt ich die Gren­ze zu einer ganz ande­ren Welt, einer Welt vol­ler Lachen und Stau­nen.

 

Eine leere Wohnung und ein leeres Buch

Weih­nachts­markt. Was für ein Wahn­sinn! War­um gehe ich hier über­haupt noch hin? Weil ich mir so gern an einem Becher Glüh­wein die Fin­ger wär­me, um mir im nächs­ten Moment die Zun­ge zu ver­bren­nen? Um in strah­len­de Kinder­augen zu bli­cken, die es kaum erwar­ten kön­nen, an Hei­lig­abend in Flu­ten von Spiel­zeug zu ertrin­ken? Spiel­zeug, das am nächs­ten Tag schon wie­der unbe­ach­tet in der Ecke liegt? Um mich von über­las­te­ten Arbeits­müt­tern anrem­peln zu las­sen, für die all dies hei­li­ger Ernst ist oder ein­fach noch ein Geschäft, das erle­digt wer­den muss? Oder um die allein­er­zie­hen­den Müt­ter zu bedau­ern, die kei­ne Chan­ce haben, mit ihren schma­len Ein­kom­men den geschickt mani­pu­lier­ten Wün­schen ihrer Spröss­lin­ge gerecht zu wer­den?

Mir kommt es vor, als ob ein hal­bes Jahr lang Weih­nach­ten herrscht. Jedes Mal fährt mir der Schreck in die Glie­der, wenn ich im Okto­ber die ers­ten Weih­nachts­män­ner die tris­ten Kauf­haus­fas­sa­den hoch­klet­tern sehe — mit ihren fet­ten Wohl­stands­wäns­ten, die eigent­lich der­art sport­li­che Leis­tun­gen unmög­lich machen soll­ten. Und die trot­zig fun­keln­den Lich­ter­ket­ten und blin­ken­den Weih­nachts­ster­ne, die im Febru­ar noch immer die Bal­ko­ne zie­ren – die wür­de ich am liebs­ten kon­fis­zie­ren, wenn ich nur so gut Fas­sa­den klet­tern könn­te wie die Weih­nachts­män­ner.

Viel­leicht flüch­te ich auch nur wie­der ein­mal vor mei­ner lee­ren Woh­nung, die mir ange­sichts die­ses bun­ten Buden­zau­bers noch kah­ler vor­kommt, als sie nach Richards Aus­zug ohne­hin schon ist. Wäh­rend ich dar­auf war­te, dass mein Glüh­wein abkühlt, sehe ich einem tur­teln­den Paar dabei zu, wie es sich gegen­sei­tig mit einer fet­ti­gen Brat­wurst füt­tert. Ange­wi­dert von dem Idyll las­se ich mei­nen viel zu süßen Glüh­wein ste­hen und suche mein Heil in der Flucht. Dabei bran­de ich gegen einen Stand mit wun­der­schö­nen Büchern. Als ich die Kost­bar­kei­ten in die Hand neh­me, blät­te­re ich durch lau­ter lee­re Sei­ten. Genau wie die­ses gan­ze, glit­zern­de, sinn­ent­leer­te Weih­nachts­ge­tö­se, den­ke ich. Schö­ner Schein und nichts dahin­ter. Ich wen­de mich schon wie­der zum Gehen, da bemer­ke ich, wie mich der Ver­käu­fer amü­siert beob­ach­tet; ein mür­ri­scher, alter Brumm­bär, der so tut, als wol­le er nichts ver­kau­fen. Viel­leicht nervt ihn der gan­ze Tru­bel genau­so wie mich. Nur hat er, im Gegen­satz zu mir, wenigs­tens einen Grund hier zu sein.

Ein Tage­buch ist im Grun­de nur eine Ansamm­lung von lee­ren, wei­ßen Sei­ten. Ein­schüch­ternd vie­le, lee­re, wei­ße Sei­ten in einem kunst­vol­len Ein­band. Es wirkt, als dür­fe man nicht irgend­et­was hin­ein­krit­zeln, son­dern nur Wohl­durch­dach­tes und Struk­tu­rier­tes. Kein Ort für Frag­men­te, Träu­me, lose Gedan­ken und Erin­ne­run­gen. Und erst recht kein Ort für all das Selbst­mit­leid, mit dem ich, seit Richard fort ist, mei­ne Freun­din­nen bis zur Erschöp­fung trak­tie­re. Ande­rer­seits: Papier ist gedul­dig, heißt es – ganz im Gegen­satz zu mir. Geduld gehört nicht zu mei­nen Tugen­den. Mit dem Hin­ter­ge­dan­ken, dass etwas Selbst­re­fle­xi­on mei­ne Trau­er­ar­beit beschleu­ni­gen könn­te, kau­fe ich eines die­ser schö­nen, hung­ri­gen Buch-Mons­ter. Am bes­ten stür­ze ich mich gleich hin­ein, bevor mei­ne Ehr­furcht davor noch grö­ßer wird.

(…)

Iro­ni­scher­wei­se zog Richard an dem Tag aus, an dem wir hei­ra­ten woll­ten. Sicher, er hat­te den Hoch­zeits­ter­min aus den ver­schie­dens­ten, äußerst plau­si­blen Grün­den immer wie­der ver­scho­ben. Das hät­te mich schon stut­zig machen kön­nen. Aber schließ­lich waren wir ja ver­lobt und hat­ten unse­re gemein­sa­me Woh­nung gera­de erst ein­ge­rich­tet. Nun eröff­ne­te er mir, dass er eine ande­re hat­te. Wie banal das Leben sein kann – und wie trau­rig. Erst war ich ungläu­big, dann scho­ckiert, dann wüte­te ich und warf ihm alles Mög­li­che vor; zuletzt nur noch schlech­tes Timing. Er blieb ruhig, gab alles zu und zuck­te mit ehr­li­chem Bedau­ern die Ach­seln. Ich kann ihn nicht ein­mal rich­tig has­sen für das, was er mir ange­tan hat. Ich weiß doch aus eige­ner Erfah­rung, wie sich das anfühlt, wenn erst die Lie­be geht und dann – wenn man ein­fach kei­ne ande­re Wahl mehr hat, will man sich nicht selbst belü­gen. Nur aus der Per­spek­ti­ve der Ver­las­se­nen kann­te ich die­ses Gefühl bis­her noch nicht. Ich bin fas­sungs­los. Ich füh­le mich mit mei­nen 37 Jah­ren alt, häss­lich und weg­ge­wor­fen. Und ich schä­me mich – für mei­ne Lie­be und wohl auch für das, was ich frü­her ande­ren ange­tan habe.

Nun gehe ich abends, wenn ich von der Arbeit nach Hau­se kom­me, rast­los wie ein gefan­ge­nes Tier durch unse­re nicht mehr gemein­sa­me Woh­nung. Mei­ne Schrit­te hal­len durch die ent­mö­bel­ten Räu­me, die zur Rui­ne mei­ner Träu­me gewor­den sind. Mein Bett fühlt sich auch dann noch kalt an, wenn ich stun­den­lang die Heiz­de­cke ein­ge­schal­tet habe. Mein Kühl­schrank ist immer vol­ler Sachen, auf die ich so lan­ge kei­nen Appe­tit habe, bis sie ver­gam­meln. Der Enthu­si­as­mus mei­ner Freun­din­nen, mich auf­zu­hei­tern, lässt auch all­mäh­lich nach. „Du musst wie­der unter Men­schen!“, sagen sie. Aber das mache ich ja – gera­de heu­te wie­der, auf dem Weih­nachts­markt! Doch selbst wenn ich mich auf­raf­fe und Tan­go tan­zen gehe (es ist die ein­zi­ge Musik, die melan­cho­lisch genug ist, dass ich sie ertra­ge), bin ich wie in einer Bla­se gefan­gen, durch die kei­ne Fröh­lich­keit von außen dringt. Als ob ich dar­in eine schwe­re­re Luft atmen wür­de als die ande­ren drau­ßen.

Vor ein paar Tagen ließ ich nach dem Tan­zen ver­se­hent­lich mei­ne Hand in der Tür des Taxis, als der Taxi­fah­rer sie zuwarf. Zwei Fin­ger waren gebro­chen. Es tat bes­tia­lisch weh. Die Trä­nen bra­chen wie ein Was­ser­fall aus mir her­aus. Seit­dem kann ich gar nicht wie­der auf­hö­ren zu wei­nen. Es ist mir auch gleich, was die Kol­le­gen den­ken, wenn ich mit­ten in einer Bespre­chung zu wei­nen anfan­ge. Ich mer­ke es ohne­hin nur noch an der Reak­ti­on der ande­ren und an dem kal­ten, nas­sen Stoff an mei­nem Hals. Es ist wie eine Befrei­ung. Hät­te mir damals jemand gesagt, wel­ches Aus­maß die Befrei­ung noch anneh­men soll­te, die mit die­sem Damm­bruch begann, ich hät­te es nicht geglaubt.

Jetzt ist die Hand schon wie­der eini­ger­ma­ßen ver­heilt. Mei­ne Kol­le­gen haben wahr­schein­lich recht: Ich soll­te Urlaub machen. Nur wo? Bloß kei­ne Pau­schal­rei­se mit lau­ter glück­li­chen Paa­ren an Zwei­er­ti­schen und Fami­li­en am Pool. Aber zwangs- ani­miert in einem Sin­gle-Club, in dem ver­zwei­fel­te Tor­schluss­pa­nik gras­siert wie ein Virus, das ist auch kei­ne Alter­na­ti­ve. Nein, wenn schon, dann will ich in Ruhe mei­ne Wun­den lecken, ohne ande­re mit mei­nem Neid und mei­nem Selbst­mit­leid zu beläs­ti­gen. Finn­land wäre eine Mög­lich­keit. In der Ein­sam­keit die­ser Land­schaft wür­de ich mich viel­leicht nicht mehr bloß wie die übrig geblie­be­ne Hälf­te eines Paa­res füh­len.

 

Auf nach Finnland

Ich habe eine klei­ne Hüt­te direkt an einem See in der Nähe des Polar­krei­ses gebucht. Das ein­zi­ge Kri­te­ri­um, das ich in die Such­ma­schi­ne des Inter­net-Rei­se­ver­an­stal­ters ein­gab: „größt­mög­li­che Ent­fer­nung zum nächs­ten Nach­barn“. Und klein soll­te sie sein, ein Pup­pen­haus für genau eine Per­son. Was bei mei­ner Suche her­aus­kam, ist nicht nur das ein­sams­te, son­dern auch das bil­ligs­te Häus­chen, das zu haben war. Umso bes­ser!

Ich begin­ne mei­ne Finn­land­rei­se mit bit­ter-süßem Tan­go­kon­fekt. Die Fin­nen, die min­des­tens eben­so tan­go­ver­rückt sind wie die Argen­ti­ni­er, haben in einem win­zi­gen Ort namens Sein­a­jo­ki ein Tango­fes­ti­val, das sei­nes­glei­chen sucht. Das gan­ze Dorf wird zur Digital StillCameraTanz­flä­che. Sogar den Sumpf legen sie mit Bret­tern aus. Das Durch­schnitts­al­ter der Tän­zer ist hoch, und etwas ande­res als fin- nisch wird hier nicht gespro­chen, aber das min­dert den Charme der Ver­an­stal­tung nicht im Gering- sten. Ich tan­ze mir die See­le aus dem Leib, läch­le in Erman­ge­lung von Wor­ten, bis mei­ne Gesichts- mus­ku­la­tur schmerzt, und die Absur­di­tät mei­nes Hier­seins lenkt mich ein paar Tage lang von mei­nem Kum­mer ab. Dann decke ich mich mit Lebens­mit­teln für zehn Tage ein, bestei­ge einen Bus, und noch einen, und dann noch einen, bis ich mit Trek­king-Ruck­sack und Ein­kaufs­tü­ten bepackt in einem Dorf aus­stei­ge, das nur aus drei Häu­sern und einer Tank­stel­le besteht. Hier wer­de ich von einem freund­li­chen älte­ren Herrn abge­holt. Wäh­rend sein klei­ner Wagen über end­lo­se, stau­bi­ge Schot­ter­we­ge hol­pert, zählt mein Gast­ge­ber alle deut­schen Fuß­ball­ver­ei­ne und -spie­ler auf, die er kennt. Es ist eine beacht­li­che Anzahl. Ich kann da nicht mit­hal­ten. Aber da das sei­ne ein­zi­gen nicht-fin­ni­schen Wor­te sind, bleibt es unse­re ein­zi­ge Kon­ver­sa­ti­on.

Die ers­te Nacht ist kurz. Das liegt weni­ger an dem unge­wohnt schma­len Bett und dem ret­tungs­los zer­schlis­se­nen Mos­ki­to­netz als an die­sem selt­sa­men Licht. Die Nacht besteht nur aus einer kur­zen, rosa­far­be­nen Däm­me­rung, dann klet­tert die Son­ne schon wie­der zügig in Rich­tung Zenit. Seit Son­nen­auf­gang sit­ze ich auf der klei­nen Holz­bank auf mei­nem Steg. Der See ist gleich vor dem Haus. Es ist ein gro­ßer See. Man kann das dicht bewal­de­te, gegen­über­lie­gen­de Ufer kaum erken­nen. Der Steg besteht aus einer klei­nen Ter­ras­se mit Bank, Stuhl und Tisch. Dar­auf dampft schon der Tee, den ich mir gera­de auf dem Gas­ko­cher zube­rei­tet habe. Das win­zi­ge Häus­chen ist nach Nord-Osten aus­ge­rich­tet und hat auch eine klei­ne Sau­na. Die ist den Fin­nen fast noch wich­ti­ger als ihr Haus. Spä­ter wird die Son­ne wohl hin­ter den Bäu­men, die nahe am Haus eine undurch­dring­li­che Mau­er bil­den, ver­schwin­den und den Steg im Schat­ten las­sen. Das ist wahr­schein­lich auch gut so, denn schon die Mor­gen­son­ne ist so heiß, dass ich nackt hier sit­zen kann. Hül­le um Hül­le habe ich bereits fal­len las­sen, seit ich mich mit Ano­rak und Vlies­ho­se in den rosa Mor­gen­ne­bel setz­te. Hier also will ich zu mir fin­den. – Wobei: ohne eine Por­ti­on „Bei-mir-sein“ wäre ich wohl gar nicht hier. Nun mel­det sich ein Früh­stücks­hun­ger; ich wer­de ihm nach­ge­ben und spä­ter wei­ter­schrei­ben.

Digital StillCameraSeit zwei Stun­den ver­su­che ich zu fischen. Der Steg liegt längst im Schat­ten, und so nahm ich mir das alte Ruder­boot, das am Ufer lag, und ruder­te hin­aus auf den See. Eine impro­vi­sier­te Angel fand ich im Schup­pen neben dem Plumps­klo, und Wür­mer gibt es hier genug. Doch es ist wie ver­hext: Immer wenn ich die Lei­ne wie­der ein­ho­le, ist zwar der Wurm ver­schwun­den, aber ein Fisch hängt nicht am Haken. Die Bies­ter schei­nen klü­ger zu sein, als ich dach­te. So läuft das Gan­ze wohl auf eine kos­ten­lo­se Fisch­spei­sung hin­aus, wäh­rend mei­ne Kost not­ge­drun­gen vege­ta­risch blei­ben wird.

Immer­hin: Die Sau­na ist ein­fach zu bedie­nen. Ich habe schon Holz geholt und wer­de mir heu­te Abend so rich­tig ein­hei­zen. Nach jedem Sau­na­gang in den damp­fen­den See zu stei­gen, dar­auf freue ich mich jetzt schon! Alles ist so herr­lich ein­fach hier. Kein Strom, kein flie­ßen­des Was­ser; mir wird bewusst, mit wie viel über­flüs­si­gem Luxus ich mich selbst in mei­ner halb­lee­ren Woh­nung noch umge­be. Ich wer­de zu Hau­se erst ein- mal gründ­lich aus­mis­ten. Gera­de hat sich ein Schmet­ter­ling auf die gegen­über­lie­gen­de Sei­te mei­nes Tage­bu­ches gesetzt. – Nein, mir fehlt es hier wirk­lich an nichts.

Die Stil­le ist unbe­schreib­lich. Sie hüllt mich ein wie eine weich wat­tier­te Jacke. Kei­ne wild um sich schla­gen­den Kirch­turm­glo­cken, kein Gekläf­fe und Gehu­pe, kei­ne Rasen­mä­her am Sams­tag. Nur der See und die­ses unwirk­li­che Licht. Digital StillCameraMit den Mücken und den Brem­sen habe ich mich eini­ger­ma­ßen arran­giert. Ich bat sie, mich wenigs­tens an mei­nem Steg unbe­hel­ligt zu las­sen, und sie ver­su­chen offen­bar wirk­lich, sich dar­an zu hal­ten. Aber wehe, ich ver­las­se mei­nen Steg! Dann fal­len sie umso gna­den­lo­ser über mich her. Aus­flü­ge in den Wald zu unter­neh­men dürf­te nahe­zu unmög­lich sein. Abseits der stau­bi­gen Schot­ter­stra­ße ist das Unter­holz undurch­dring­lich, und die klei­nen Bies­ter sau­gen einen bis zum letz­ten Bluts­trop­fen aus. Ich ver­zich­te auch dar­auf, mein Was­ser von der Quel­le im Wald zu holen, die mir mein fin­ni­scher Gast­ge­ber zeig­te, und trin­ke statt­des­sen lie­ber direkt aus dem See. Ich las­se beim Schwim­men ein­fach den Mund offen.

Erstaun­li­cher­wei­se lese ich hier wenig – viel weni­ger, als ich mir vor­ge­nom­men hat­te. Aber las­se ich mich von mei­nen mit­ge­brach­ten Büchern unter Druck set­zen? Nein, sol­len sie doch unge­le­sen ver­schim­meln! Ich döse statt­des­sen ein­fach vor mich hin. Es erscheint mir unvor­stell­bar, dass ich mich hier lang­wei­len könn­te. Dazu ist das Licht zu präch­tig, die Luft zu wür­zig und die Geräu­sche der Natur zu auf­re­gend, wenn man die Stil­le erst ein­mal ver­stan­den und gemerkt hat, dass sie in Wirk­lich­keit gar nicht so still ist. Vor allem die Nacht ist hier viel zu abwechs­lungs­reich und schön, um sie zu ver­schla­fen. Eine ein­zi­ge lan­ge Däm­me­rung ist das, vol­ler fremd­ar­ti­ger Lau­te und stän­dig wech­seln­dem Licht. Ich schla­fe nur in den Mit­tags­stun­den ein biss­chen.

In die­ser Nacht muss ich doch kurz ein­ge­nickt sein auf mei­ner Bank, und das, obwohl ich die­se herr­li­che Voll­mond­nacht eigent­lich auf gar kei­nen Fall ver­säu­men woll­te. Ich wache auf aus einem selt­sa­men, sehr leben­di­gen Traum. Dar­in begeg­ne­te ich einem gro­ßen wei­ßen Polar­wolf. Er sah mich aus sei­nen gel­ben Augen tief an und berühr­te sanft mei­ne Stirn. Dann rieb er sei­ne Schnau­ze an mei­nem Gesicht und strei­chel­te mit der Pfo­te mei­nen Arm. Er saß so dicht hin­ter mir, dass ich sei­ne war­me, behaar­te Brust an mei­nem Rücken spü­ren konn­te. Schließ­lich ließ ich mich fal­len und kuschel­te mich in sein wei­ches Fell. Was für ein schö­ner Traum! Bin ich schon so aus­ge­hun­gert?

 

So ein unwirkliches Licht

Heu­te ist ein selt­sa­mer Tag. Das mil­chi­ge Licht ist ver­wir­rend dif­fus, und die klei­nen Blut­sauger sind noch angriffs­lus­ti­ger als sonst. Heu­te hal­ten sie sich an kei­ne Ver­ein­ba­rung. Auch die Krä­hen kräch­zen ner­vös. Gera­de als ich mich in mein Buch ver­tie­fen will, knackt es über mir unheil­voll. Im sel­ben Moment schla­gen fast gleich­zei­tig drei schwe­re Kie­fern­zap­fen dicht neben mir auf dem Steg auf. Sie ver­feh­len mich nur um Haa­res­brei­te. Nein, Schluss jetzt! Hier habe ich heu­te kei­ne Ruhe mehr zum Dösen oder Lesen. Ich füh­le mich unge­liebt und ver­trie­ben. Erin­ne­run­gen an die Tren­nung von Richard kom­men hoch. Kei­ner will mich, nicht ein­mal die Natur hier in die­ser men­schen­lee­ren Wild­nis! Den Mücken zum Trotz mache ich jetzt doch einen Spa­zier­gang. Viel­leicht wird mich das auf­hei­tern oder wenigs­tens ablen­ken. Irgend­ei­nen Weg durchs Unter­holz wer­de ich mir schon bah­nen. Ich neh­me ein­fach das klei­ne Beil mit, das ich im Schup­pen gefun­den habe.

Hin­ter dem dich­ten Wäld­chen kommt gleich die Stra­ße. „Stra­ße“ ist eigent­lich eine hoch­tra­ben­de Bezeich­nung für einen stau­bi­gen Sand­weg, der nir­gend­wo­hin führt. Kei­ne Autos, kei­ne Men­schen in die­ser gott­ver­las­se­nen Gegend, nur die­se trü­be und doch sen­gen­de Son­ne und Heer­scha­ren von Mos­ki­tos. Aber gut, das hat­te ich mir so aus­ge­sucht. Mein Ziel ist der gro­ße graue Berg vor mir, eine fer­ne Sil­hou­et­te in die­sem unwirk­li­chen Licht.

Das stän­di­ge Sum­men der gie­ri­gen klei­nen Vam­pi­re macht mich wahn­sin­nig. Auch die end­lo­sen Lupi­nen­fel­der mit ihren leuch­ten­den Far­ben kön­nen mei­ne Stim­mung nicht auf­hel­len. Ich lau­fe immer schnel­ler, gera­de so als könn­te ich den Mücken und mei­ner Trau­er davon­lau­fen. End­lich errei­che ich den Wald am Fuß des Ber­ges. Nicht, dass mir der Wald Schutz vor den klei­nen Bies­tern böte, im Gegen­teil. Ich weh­re mich nur nicht län­ger und über­las­se ihnen ein­fach mei­nen Kör­per. Die Sti­che jucken ohne­hin nur kur­ze Zeit. Offen­bar kom­men die Mücken hier mit so wenig Gift in Berüh­rung, dass ihre Bis­se schnell wie­der abschwel­len.

Tat­säch­lich fin­de ich einen schma­len, kaum erkenn­ba­ren Pfad durch das Wald­di­ckicht. Er führt gera­de­wegs zum Fuß einer Fels­wand. Klet­ternd suche mir einen Pfad über Rit­zen und Mul­den nach oben. Die Hälf­te der Stre­cke lege ich auf allen Vie­ren zurück. Das kon­zen­trier­te Klet­tern lenkt mich von mei­nen Gedan­ken ab. Wei­ter oben gibt es kei­ne Bäu­me mehr, nur noch klei­ne, ver­wach­se­ne Sträu­cher. Es ist nicht mehr weit bis zum Gip­fel. Der Aus­blick ist atem­be­rau­bend. Die ein­sa­me Seen­land­schaft liegt unter mir wie eine Land­kar­te. Kei­ne Anzei­chen von mensch­li­cher Besie­de­lung weit und breit. Zu mei­ner Über­ra­schung stel­le ich fest, dass ich mich auf einer Halb­in­sel inmit­ten eines rie­si­gen Sees befin­de, deren höchs­ter Punkt der Fel­sen ist, auf dem ich ste­he. Das Lupi­nen­feld mit der stau­bi­gen Stra­ße ist die ein­zi­ge Ver­bin­dung zum Fest­land. Direkt unter mir sehe ich tief im dich­ten Wald einen klei­nen, schwar­zen Tüm­pel. Die­ses schwar­ze Auge übt eine gro­ße Anzie­hungs­kraft auf mich aus. Ich weiß nicht, ob es mir gelin­gen wird, durch das Dickicht zu dem klei­nen Moor-See vor­zu­drin­gen, aber ich will es ver­su­chen.

Mit­hil­fe des Beils bah­ne ich mir einen Weg durch den von Mücken ver­seuch­ten, sump­fi­gen Wald. Der See ist tief­schwarz, kein Grund zu sehen – nir­gend­wo. Ohne zu über­le­gen, rei­ße ich mir mei­ne ver­schwitz­ten Klei­der vom Leib und stür­ze mich ins Was­ser. Es ist warm, braun und weich, ganz anders als das kal­te, kla­re Was­ser des gro­ßen Sees. Als ob es nicht das­sel­be Ele­ment wäre. Ich genie­ße es, mich auf die­sem dunk­len, grund­lo­sen Was­ser trei­ben zu las­sen.

Womit ich aller­dings nicht gerech­net habe, ist, dass es zwar leicht ist, hin­ein­zu­kom­men in das moo­ri­ge Was­ser, aber nahe­zu unmög­lich, wie­der hin­aus- zuge­lan­gen. Zunächst ver­su­che ich, an der Stel­le aus dem Was­ser zu krie­chen, an der mei­ne Klei­dung liegt. Doch es ist wie ein böser Traum. Je näher ich dem Ufer kom­me, des­to tie­fer ver­sin­ke ich im moo­ri­gen Grund. Schwim­mend sehe ich mich um. Über­all sieht das Ufer gleich aus. Lang­sam steigt Panik in mir hoch. Soll ich etwa in die­sem düs­te­ren Moor-See ertrin­ken? Ich zwin­ge mich zu einer kla­ren Ana- lyse mei­ner Lage und suche schwim­mend das Ufer nach etwas Fes­tem ab, das mir Halt zum Aus­stei­gen bie­ten könn­te. Doch das Was­ser ist so trüb, dass ich kaum ein paar Zen­ti­me­ter weit nach unten bli­cken kann. Ich beschlie­ße, trotz mei­ner Erschöp­fung nur noch mit der Kraft mei­ner Arme am Ufer ent­lang zu schwim­men und mei­ne Bei­ne dabei wie ein Lot in die Tie­fe bau­meln zu las­sen. End­lich ertas­te ich unter der Was­ser­ober­flä­che einen fla­chen Fel­sen, der mir als Aus­stieg die­nen könn­te. Mehr­mals rut­sche ich von dem glit­schi­gen Stein ab, doch dann gelingt es mir, dar­auf zu ste­hen. Und nun? Beim ers­ten Schritt vom Fel­sen ans Ufer ver­sin­ke ich gleich wie­der bis zu den Schen­keln im Morast. Aber dem See bin ich glück­lich ent­ron­nen!

Irgend­wie gelingt es mir, split­ter­nackt durch den Schlamm rob­bend, die hun­dert Meter bis zu mei­nen Klei­dern zurück­le­gen. Als ich end­lich mein T-Shirt im Gestrüpp am Ufer hän­gen sehe, bin ich erleich­tert. Ich sehe zwar aus wie eine Moor­lei­che, aber ich habe es geschafft! Ich traue mich natür­lich nicht mehr ans Was­ser, um mich zu waschen. Also stei­ge ich, schlam­mig wie ich bin, in mei­ne Klei­der. Es ist ein selt­sa­mes Gefühl, als der Schlamm auf dem Rück­weg an mei­nen Armen und Bei­nen lang­sam zu einer dün­nen Krus­te trock­net. Nur an den Stel­len, an denen ich schwit­ze, fließt er an mir her­un­ter. Ich ver­su­che mich damit zu trös­ten, dass das sicher sehr gesund ist und auch dazu bei­trägt, dass mei­ne Sti­che weni­ger jucken.

Die Däm­me­rung hat längst ein­ge­setzt, als ich end­lich, und sicher nicht auf dem direk­tes­ten Weg, zu mei­ner Hüt­te zurück­fin­de. Es muss schon lan­ge nach Mit­ter- nacht sein. Ich hei­ze die Sau­na an und rei­ni­ge mich im kla­ren Was­ser mei­nes – wie ich nun weiß – rie­si­gen Sees. Eigen­ar­tig, dass die­ser klei­ne Moor-See, der mich fast als Leben gekos­tet hät­te, unschul­dig ein­ge­bet­tet wie ein Embryo in die­sem gro­ßen See liegt. Ich brin­ge bei­des in mei­ner Vor­stel­lung nicht zusam­men. Es ist wie ein Traum. Der Traum ent­steht in mir, kommt aus mir, und hat doch etwas ganz Eige­nes, Frem­des, schein­bar nicht zu mir Gehö­ren­des – so wie die­ser klei­ne schwar­ze See im gro­ßen blau­en See.

Nach mei­nem bestan­de­nen Aben­teu­er mache ich mir heu­te einen fau­len Tag. Ein paar Sei­ten in mei­nem Buch, dann wie­der dösen, Spa­get­ti mit Pes­to und wie­der dösen. Alles ist fried­lich, sogar die Kie­fer über mir. Selbst den Brem­sen und den Mücken scheint es zu heiß zu sein. So kann ich es rich­tig genie­ßen, nackt im Halb­schat­ten auf mei­ner Decke zu lie­gen. Hier, am äußers­ten Ende des Stegs fällt gera­de die rich­ti­ge Dosis Son­ne durch die Zwei­ge.

Ich bin schon fast ein­ge­nickt, da spü­re ich einen hei­ßen Atem an mei­ner Stirn. Als ich die Augen öff­ne, bli­cke ich in die gel­ben Augen eines Wolfs! Ich bin sofort hell­wach und zu Tode erschro­cken. Einem tie­fen Urinstinkt fol­gend den­ke ich nur noch an Flucht. Aber da der Wolf mir den Weg zum Haus abschnei­det, blie­be mir nur der Sprung ins eis­kal­te Was­ser des Sees, wohin er mir leicht fol­gen könn­te. Er ist sicher ein bes­se­rer Schwim­mer als ich. Wäh­rend mir sol­che Gedan­ken durch den Kopf jagen, blei­be ich äußer­lich regungs­los wie unter Schock. Das Tier scheint lan­ge nicht so erschro­cken wie ich, weicht aber ange­sichts mei­ner ver­ängs­tig­ten Reak­ti­on respekt­voll eini­ge Meter zurück. Ich bin für ihn wahr­schein­lich nichts als ein nack­tes, zit­tern­des Bün­del Fleisch. Wir schau­en uns lan­ge in die Augen, als ob er dar­auf war­ten wür­de, dass ich mich end­lich beru­hi­ge. Schließ­lich trollt sich der Wolf genau­so laut­los, wie er gekom­men ist. Ich bin immer noch dabei, mich von dem Schreck zu erho­len. Aber die­ser Blick! – Die­se war­men, gel­ben Augen!

Erst nach und nach wird mir die Kost­bar­keit die­ser Begeg­nung bewusst. Ärger­lich, die Angst, mit der ich reagiert habe! Ich wünsch­te, der jun­ge Wolf wür­de noch ein- mal wie­der­kom­men, dann wür­de ich ver­su­chen, anders zu reagie­ren. Aber er kommt nicht mehr. Was soll er auch mit mir anfan­gen, einem ängst­li­chen, nack­ten Men­schen­weib­chen? Er ist sicher längst wei­ter­ge­zo­gen, um sich eine hüb­sche Wöl­fin zu suchen und mit ihr ein neu­es Rudel zu grün­den. Ich notie­re: Den „bösen Wolf“ muss nur fürch­ten, wer ein Schaf ist. Und wie zur Stra­fe für mei­ne nach- träg­li­che Auf­müp­fig­keit knallt wie­der ein dicker Kiefern­zapfen neben mir aufs Holz. Und noch einer. Ich glau­be, es ist bes­ser, wenn ich mich erst ein­mal aus der Schuss- linie bege­be.

 

Ein anonymer Auftrag

In die­ser Nacht träu­me ich wie­der. Eine weib­li­che Stim­me for­dert mich auf, ein Buch über Reli­gi­on zu schrei­ben. Absurd. Ich kann ihr nur so viel ant­wor­ten: Für anony­me Auf­trä­ge jed­we­der Art bin ich ers­tens nicht zu haben. Zwei­tens gibt es wohl kaum etwas, mit dem ich mich weni­ger aus­ken­ne und für das ich mich weni­ger inter­es­sie­re als Reli­gi­on. Ich bin im uner­schüt­ter­li­chen Glau­ben an die rest­lo­se, ratio­na­le Erklär­bar­keit der Welt auf­ge­wach­sen. Mei­ne Mut­ter war Athe­is­tin, und mein Vater trau­te sich nicht zuzu­ge­ben, dass er doch an so etwas wie Gott glaub­te. Weih­nach­ten ließ mei­ne Mut­ter als „Brauch­tum“ durch­ge­hen. Dabei beton­te sie immer, dass es eigent­lich heid­ni­schen Ursprungs sei. Mei­ne Schwes­ter und ich bete­ten heim­lich vor dem Schla­fen­ge­hen. Es war wie das Mor­sen an der Gefäng­nis­wand. Irgend­et­was muss­te da drau­ßen sein, was allem einen Sinn gab, gütig und gerecht war und mäch­ti­ger als unse­re Eltern. Wir benei­de­ten unse­re Freun­din­nen heim­lich um ihren Glau­ben an Gott. Aber Reli­gi­on? Das erschien uns dog­ma­tisch und into­le­rant und irgend­wie unan­stän­dig.

Inzwi­schen gehö­ren Yoga und Medi­ta­ti­on zu mei­nem All­tag wie das Zäh­ne­put­zen, aber das hat rein prag­ma­ti­sche Grün­de, und ich betrach­te es kei­nes­wegs als Reli­gi­on. Medi­ta­ti­on ist mein (zumeist) hilf­lo­ser Ver­such, den mehr oder weni­ger fröh­li­chen Lärm in mei­nem Kopf für Augen­bli­cke zum Schwei­gen zu brin­gen oder wenigs­tens zur Abwechs­lung mal von außen zu betrach­ten. Yoga war das Ein­zi­ge, was mir vor Jah­ren half, nach einem Fahr­rad­un­fall mein Schleu­der­trau­ma in den Griff zu bekom­men. Und nun for­dert mich eine omi­nö­se Stim­me auf, ein Buch zu schrei­ben aus­ge­rech­net über Reli­gi­on?

(…)

Gera­de als ich auf mei­nem Steg vor mich hin döse, höre ich wie­der die Stim­me aus mei­nem Traum. Sie dik­tiert mir ein paar Sät­ze. Sie klin­gen wie der Anfang eines län­ge­ren Tex­tes. Die Stim­me ist nur inner­lich hör­bar, das heißt, ich füh­le die Wor­te mehr als dass ich sie höre. Schwer zu beschrei­ben. Die Wor­te erge­ben über­ra­schen­der­wei­se einen Sinn und sind auf selt­sa­me Wei­se schön. Ich schrei­be sie auf.

Nun bekom­me ich jeden Mor­gen einen klei­nen Text­ab­schnitt. Ich brau­che nur zuzu­hö­ren. Tat­säch­lich geht es dar­in um so etwas wie Reli­gi­on, aber nicht so, wie ich Reli­gi­on immer ver­stan­den habe, als etwas, das mit Kir­che zu tun hat, son­dern viel grund­le­gen­der: Es geht um die Lie­be. Die Wor­te sind sehr schön und berüh­ren mich tief. Nun ja, ich neh­me an, wenn ich mor­gen hier wie­der abrei­se, wird der gan­ze Spuk wohl vor­bei sein. Egal. Schön war es jeden­falls: der schwar­ze See, der Wolf, die Träu­me, die­se inne­re Stim­me … – Ich neh­me mir vor, mir auch zu Hau­se, im All­tag, immer wie­der kur­ze Zei­ten der Stil­le zu gön­nen, in denen ich nichts tue, rein gar nichts, nicht ein­mal lesen. Ich möch­te wenigs­tens den inne­ren Raum dafür zur Ver­fü­gung stel­len, dass so wun­der­sa­me Din­ge gesche­hen kön­nen wie hier.

 

Wieder zu Hause

Ich wage es kaum, die­se schreck­lich gro­ße, lee­re Woh­nung so zu nen­nen: „zu Hau­se“. Aber raus­zu­ge­hen unter Men­schen macht mir auch kei­ne rech­te Freu­de. Die Stadt stumpft mich ab. Zu vie­le Ein­drü­cke, die ich in die­ser Fül­le gar nicht ver­ar­bei­ten kann. Also blen­de ich sie not­ge­drun­gen aus und büße so nach und nach mei­ne Auf­merk­sam­keit ein. In der Natur geschieht mit mir das Gegen­teil: Die Sin­ne wer­den geschärft, die Sen­si­bi­li­tät ver­fei­nert, jedes Detail wird bedeut­sam und das Gan­ze als Kom­po­si­ti­on sei­ner Ein­zel­tei­le spür­bar. Am bes­ten kann ich das wahr­neh­men, wenn ich allein bin. Seit Finn­land bin ich offen­bar emp­find­li­cher gewor­den. Brau­chen wir Men­schen den Lärm der Welt, weil die Stil­le uns Angst macht, uns mit unse­rer eige­nen Gren­zen­lo­sig­keit kon­fron­tiert?

(…)

In Nor­wich zieht es mich in eine klei­ne Kir­che am Stadt­rand, die mir frü­her nie auf­ge­fal­len war, schließ­lich gibt es über fünf­zig Kir­chen in Nor­wich. Sie liegt eher unro­man­tisch am Ran­de einer Groß­bau­stel­le. In einem Neben­raum ist eine klei­ne Kapel­le für Juli­an of Nor­wich ein­ge­rich­tet wor­den, die hier im 14. Jahr­hun­dert gelebt haben soll. Der Raum ist recht lieb­los reno­viert und her­ge­rich­tet und lädt nicht zum Ver­wei­len ein. Ich weiß eigent­lich gar nicht, was ich hier soll.

Als ich gera­de wie­der gehen will, höre ich eine weib­li­che Stim­me hin­ter mir. Reflex­ar­tig dre­he ich mich um, doch außer mir ist nie­mand im Raum. Dann erken­ne die Stim­me wie­der: Es ist die­sel­be, die mir vor ein paar Mona­ten in Finn­land den Text dik­tiert hat! Dies­mal brau­che ich die Wor­te nicht erst inner­lich zu „über­set­zen“. Die Stim­me sagt deut­lich ver­nehm­bar: „Ich bin so glück­lich, dass du gekom­men bist. Du wirst mei­ne Arbeit fort­füh­ren. Ich weiß, dass sie bei dir in guten Hän­den ist.“ Es liegt so viel Freu­de und Erleich­te­rung in die­ser Stim­me! Dann war es also Juli­an, die mir den Text dik­tiert hat, Juli­an of Nor­wich! Ich blei­be noch, bis ein Mann die Kapel­le betritt und sich zum Beten nie­der­lässt. Mit gemisch­ten Gefüh­len ver­las­se ich die­sen selt­sa­men Ort. Nun habe ich qua­si die Auto­rin mei­nes schö­nen, klei­nen Tex­tes ken­nen­ge­lernt, der por­ti­ons­wei­se über einen Zeit­raum von zwei Wochen kam, und dann ganz orga­nisch ende­te. Wie gern hät­te ich ein Gesicht zu die­ser war­men, fei­nen Stim­me. Wie gern wür­de ich Juli­an in die Augen sehen! Dann über­fal­len mich wie­der die übli­chen Zwei­fel, ob das alles über­haupt sein kann oder ob ich mir das nur ein­bil­de. Aber lang­sam kom­men mir die­se Zwei­fel wie zahn­lo­se Tiger vor, die mich nur noch rou­ti­ne­mä­ßig und ohne gro­ße Über­zeu­gung anfal­len, weil sie wis­sen, dass sie zuneh­mend an Boden ver­lie­ren.

Ich trau mich trotz­dem nicht, mei­nem Stu­di­en­freund von die­sem Erleb­nis zu erzäh­len. Der wür­de mich sicher für heil­los über­spannt hal­ten. Viel­leicht bin ich das ja auch. Ich wer­de trotz­dem alles auf­schrei­ben, denn ich habe das Gefühl, dass dies erst der Anfang ist. Wer weiß, ob ich spä­ter selbst noch glau­be, was mir gera­de pas­siert ist. Auf jeden Fall will ich mehr über die­se Juli­an wis­sen. Ich wer­de alles lesen, was sie geschrie­ben hat und was über sie geschrie­ben wur­de. Ich möch­te wis­sen, mit wem ich es zu tun habe!

Juli­an hat im 14. Jahr­hun­dert als Non­ne in Nor­wich gelebt. Sie wur­de in der Mit­te ihres Lebens schwer­krank und fie­ber­te dem Tod buch­stäb­lich als Erlö­sung ent­ge­gen, erhol­te sich aber wie­der und wur­de für dama­li­ge Ver­hält­nis­se sogar recht alt. Ihre Bücher erfül­len mich mit einer Mischung aus Begeis­te­rung und Abscheu. Was sie über die Lie­be schreibt, spricht mir voll­kom­men aus der See­le. Es muss zu ihrer Zeit gera­de­zu revo­lu­tio­när gewe­sen sein und nicht unge­fähr­lich, von einer Lie­be zu spre­chen, die in jedem ein­zel­nen von uns wohnt, und damit im Grun­de Gott zu mei­nen. Aber die Schil­de­run­gen ihrer Ver­eh­rung für den Gekreu­zig­ten sto­ßen mich ab. Mit die­ser Mischung aus Blut­rausch und Todes­sehn­sucht kann ich wenig anfan­gen. Was mich am meis­ten berührt, ist der schlich­te Satz: „All shall be well, and all shall be well, and all man­ner of things shall be well.“ Was für ein tie­fes Gott­ver­trau­en sie trotz ihrer schwe­ren Krank­heit gehabt haben muss!

Juli­an, lie­be Juli­an! Was machst du bloß mit mir?“ Viel­leicht spinn ich jetzt völ­lig, aber gera­de hör­te ich wie­der ihre Stim­me. Nach einer miss­glück­ten Mor­gen­me­di­ta­ti­on in mei­ner klei­nen B&B-Pension, in der ich erst immer­zu an mei­ne kal­ten Füße den­ken muss­te und mich dann dar­über ärger­te, dass ich nur an mei­ne kal­ten Füße dach­te, ver­such­te ich mich mit dyna­mi­schen Yoga-Übun­gen auf­zu­wär­men. Da höre ich wie­der ihre Stim­me: „Das habe ich in mei­ner Zel­le auch immer gemacht.“ Ich fah­re her­um, und da ist sie. Ich sehe sie nicht so klar und drei­di­men­sio­nal wie einen Men­schen aus Fleisch und Blut, eher ver­schwom­men und in Umris­sen, mal mehr, mal weni­ger deut­lich – als ob sich mei­ne Augen erst an die­se Art des Sehens gewöh­nen müss­ten. Aber dafür sehe ich sie sehr viel bun­ter als einen „rea­len“ Men­schen. Sie sieht ganz anders aus, als ich sie mir vor­ge­stellt habe: Sport­lich und modern wirkt sie, trotz ihrer Non­nen­tracht. Und klein. Sie reicht mir kaum bis zur Schul­ter. Unglaub­lich tem­pe­ra­ment­voll und leben­dig ist sie und von einer rosa­far­be­nen Aura mit wei­ßem Kern umge­ben. Kaum zu glau­ben, dass sie schon sechs­hun­dert Jah­re tot ist.

Juli­an ver­sucht sich gera­de an einer mei­ner Yoga-Übun­gen und lacht, weil es ihr nicht gelin­gen will. Die Situa­ti­on wirkt so unwirk­lich und real zugleich, dass ich nicht groß dar­über nach­den­ke, son­dern gleich her­aus­platz­te: „Das kannst du gar nicht ken­nen! Das ist Yoga und kommt aus Indi­en, und du bist eine mit­tel­al­ter­li­che Non­ne.“ – „Stimmt“, lacht sie ver­schmitzt, „aber die Übun­gen sind doch sehr ähn­lich.“ Und was sie mir nun zeigt, hat tat­säch­lich viel mit mei­nen Yoga-Übun­gen gemein­sam.

Ich freue mich so, dass du zu mir gekom­men bist. Ich konn­te ein­fach nicht län­ger nur zuschau­en. Als du mich in mei­ner Zel­le besucht hast, muss­te ich mich dir ein­fach zu erken­nen geben. Ich hof­fe, du bist mir des­we­gen nicht böse“, sagt sie. „Wirst du mei­ne Arbeit fort­füh­ren?“ – „Was meinst du denn mit dei­ner Arbeit? Weißt du, ich habe sol­che Pro­ble­me mit den Sho­wings, die du geschrie­ben hast. Die gan­ze Chris­tus-Ver­eh­rung und dein Wunsch zu lei­den, das kann ich nicht nach­voll­zie­hen, es stößt mich ab. So sehr, dass ich dein Buch nicht mehr bei mir behal­ten woll­te und es ver­schenkt habe. Ich hof­fe, dafür bist du mir nicht böse.“ – „Das ver­ste­he ich gut. Und ich ver­ste­he auch, dass dir die­ser Teil fremd ist. Aber es genügt völ­lig, sich auf die Lie­be zu kon­zen­trie­ren. Das war auch für mich immer das Wesent­li­che. Du musst ver­ste­hen, unter wel­chen Umstän­den ich damals gelebt und geschrie­ben habe. Die Chris­tus-Ver­eh­rung war für Mys­ti­ker damals sehr wich­tig. Und für Mys­ti­ke­rin­nen erst recht, woll­te man nicht den Ver­dacht der Ket­ze­rei erre­gen. Und ich woll­te die Men­schen ja auch errei­chen mit dem, was ich sah und auf­schrieb. Wie hät­test du denn an mei­ner Stel­le gehan­delt? Zu mei­ner Zeit war es für eine Frau nicht üblich, allein zu leben und ein­fach zu tun, was ihr gefällt, so wie du heu­te. Und die Män­ner waren ent­we­der Pries­ter und Mön­che oder sie waren spi­ri­tu­ell im tiefs­ten Mit­tel­al­ter.“

Über ihren letz­ten Satz muss­ten wir bei­de lachen. „Hei­ra­ten kam für mich nicht infra­ge. Ich hät­te es mit kei­nem die­ser Män­ner aus­ge­hal­ten. Das wäre nur kör­per­li­che und geis­ti­ge Skla­ve­rei gewe­sen. Also kämpf­te ich dar­um, Non­ne wer­den zu dür­fen. Aber dann? Ich hat­te doch auch mei­ne Wün­sche, Träu­me und Sehn­süch­te. Lie­ber einen See­len­part­ner, den ich mit vie­len tei­len muss, Jesus Chris­tus, als über­haupt kei­nen. Viel­leicht kannst du wirk­lich nicht ver­ste­hen, wie sinn­lich – du wür­dest sagen ‚ero­tisch’ – die Pas­si­ons­vor­stel­lun­gen für mich waren. Und die Todes­sehn­sucht, die dich so befrem­det. – Weißt du, der Tod war für uns frü­her ganz nor­mal. Er hat­te für uns kei­nen Schre­cken, so wie für euch. Oft war er als ersehn­tes Ende eines beschwer­li­chen Lebens sogar will­kom­men. Aber ich war so von unse­rer Auf­ga­be und Visi­on über­zeugt (sie spricht immer von „unse­rer“ Auf­ga­be), dass ich am Ende mei­ne Krank­heit über­wand und im Leben blieb. Ich wur­de sogar recht alt, wie du weißt. Ich woll­te immer, dass die Men­schen die gött­li­che Lie­be spü­ren und unter­ein­an­der leben. Dass sie getrös­tet wer­den durch sie, und auch dass das Leben hier ein biss­chen bes­ser wird.“

(…)

Heu­te bekam ich in mei­ner Medi­ta­ti­on Besuch. Gera­de als ich mich zu mei­nem „Dan­ke, dass alles so ist, wie es ist“, mit dem ich jede Medi­ta­ti­on begin­ne und been­de, ver­beu­ge, spü­re ich, wie etwas mei­nen Hin­ter­kopf streift. Es ist ein Rabe. Ich weiß natür­lich, dass es kein wirk­li­ches Tier aus Fleisch und Blut ist. Aber ich spü­re deut­lich, wie er sei­ne Schwin­gen aus­brei­tet und mich an bei­den Schul­tern berührt. Obwohl sich die Berüh­rung sehr sanft, fast zärt­lich anfühlt, ist mir nicht wohl dabei. Hat mich Fio­na nicht gewarnt, dass mir nicht alle Wesen, die mir jetzt begeg­nen, wohl geson­nen sei­en? Und der Rabe hat in unse­rer Kul­tur nicht gera­de einen guten Ruf. Ande­rer­seits hat das der Wolf auch nicht, und der hat mich nicht ver­schlun­gen, son­dern mir gehol­fen, mein Herz zu öff­nen. Noch bin ich unsi­cher.

Im Traum neh­me ich an einem Semi­nar teil, das in der Wüs­te statt­fin­det. Der Semi­nar­lei­ter teilt uns in zwei Grup­pen ein. Ich bin quer­schnitts­ge­lähmt und mit zwei ande­ren Behin­der­ten in der klei­ne­ren Grup­pe. Ich kom­me frü­her als alle ande­ren in den morgend­lichen Semi­nar­raum gefah­ren. Dort sitzt ein Rabe, als ob er auf mich gewar­tet hät­te. Er hüpft auf mei­nen Schoß und lässt sich von mir strei­cheln. Spä­ter spricht mich der Semi­nar­lei­ter auf den Raben an und bit­tet mich ein­dring­lich, mit ihm an den Fluss hin­un­ter­zu­ge­hen. Ich soll trotz mei­ner Behin­de­rung in das Was­ser des wil­den Flus­ses stei­gen. Um mich zu über­re­den, schwärmt er mir von der Unter­was­ser­welt des Flus­ses vor. Er ver­schweigt aber auch nicht, wie tückisch die Strö­mun­gen sind, und zeigt mir eine detail­lier­te Kar­te des Fluss­lau­fes. Trotz mei­ner Angst ent­schei­de ich mich hin­ein­zu­ge­hen. Damit ist der Traum zu Ende.

Er erin­nert mich an mei­ne Kind­heit: Als ich noch klein war, tat ich mich schwer, schwim­men zu ler­nen. Mit unend­li­cher Geduld ver­such­ten mei­ne Eltern, mich davon zu über­zeu­gen, dass mich das Was­ser trägt, wenn ich nur ein paar klei­ne Bewe­gun­gen mache. Ich aber hat­te pani­sche Angst davor, die Sicher­heit des Becken­ran­des und mei­ner Schwimm­flü­gel gegen das gro­ße Unbe­kann­te ein­zu­tau­schen. Als ich mich dann end­lich über­wun­den hat­te, war das so wun­der­schön, dass ich über­haupt nicht mehr aus dem Was­ser woll­te und mei­ne Mut­ter gele­gent­lich nach­sah, ob mir schon Schwimm­häu­te gewach­sen waren. Ganz ähn­lich füh­le ich mich heu­te – ich ler­ne zum zwei­ten Mal schwim­men … und der Rabe erscheint mir, nach der freund­li­chen Wie­der­be­geg­nung im Traum, nicht mehr ganz so unheim­lich.

 

In fünfzehn Minuten um die Welt

Ich habe mich ent­schie­den. Ich wer­de hin­ein­ge­hen und mich, wie in mei­nem Traum, die­ser ande­ren Welt stel­len. Ich habe mich für einen Grund­kurs in Scha­ma­nis­mus ange­mel­det – aus­ge­rech­net ich, die noch vor so kur­zer Zeit nichts als Ver­ach­tung für alles Eso­te­ri­sche übrig hat­te. Nun bin ich hier in den Ber­gen, in Öster­reich, in einer Grup­pe von cir­ca drei­ßig Men­schen, deren Moti­va­ti­on hier zu sein, sehr unter­schied­lich ist. Eini­ge kom­men aus Neu­gier, ande­re, um die Lee­re in ihrem Leben aus­zu­fül­len, und man­che, weil sie Erfah­run­gen gemacht haben, die sie nicht ein­ord­nen kön­nen und die ihnen Angst machen – so wie ich. Für unse­re Kurs­lei­te­rin ist alles rei­ne Rou­ti­ne. Wir fan­gen ohne lan­ge Erklä­run­gen gleich mit dem scha­ma­ni­schen Rei­sen an. „Kaum einer schafft es nicht“, beru­higt sie unse­re Ver­sa­gens­ängs­te. „Vor zwan­zig Jah­ren, als ich anfing, war das anders. Da war es für die Men­schen nicht so ein­fach, die Schwel­le zur ande­ren Welt zu über­schrei­ten.“

Und wirk­lich: Nur zwei von uns spü­ren wäh­rend der ers­ten Rei­se wenig oder nichts. Unse­re Kurs­lei­te­rin macht nicht viel Auf­he­bens um das Rei­sen. Nur eine Augen­bin­de, für die, die mei­nen, sie zu brau­chen, eine kur­ze Anlei­tung, wie wir vor­ge­hen sol­len, und schon geht es los. Zum mono­to­nen Klang der Trom­mel legen wir uns auf den Boden. Jeder stellt sich einen Kraft­platz in der Natur vor, den er kennt und liebt. Dort beginnt die Rei­se.

Zunächst sol­len wir uns in der „unte­ren Welt“ auf die Suche nach einem Kraft­tier machen. Dazu suchen wir uns einen Ein­gang in die­se Welt, ein Loch im Boden, einen See oder Teich, eine Rit­ze zwi­schen Stei­nen, was immer uns geeig­net erscheint. Dort hin­ein krie­chen wir und fin­den uns in einem Tun­nel, durch den wir mehr oder weni­ger lan­ge hin­durch­rei­sen. Von der Land­schaft, die sich vor uns dann öff­net, dür­fen wir uns über­ra­schen las­sen. Wir sol­len aber kei­ne Zeit ver­lie­ren, uns nach unse­rem Kraft­tier umzu­se­hen. Zeigt es sich, sol­len wir um Erlaub­nis bit­ten, es ein­fan­gen und mit­neh­men zu dür­fen. Begeg­nen wir ver­schie­de­nen Tie­ren, so ent­schei­den wir uns für das­je­ni­ge, das auch Kon­takt zu uns sucht. Dann neh­men wir es durch den Kanal, durch den wir gekom­men sind, wie­der mit nach oben. Dort erwar­ten wir das Rück­hol­si­gnal: vier­mal acht Trom­mel­schlä­ge gefolgt von schnel­lem Trom­meln und wie­der vier­mal acht Trom­mel­schlä­gen. Spä­tes­tens bei den ers­ten acht Trom­mel­schlä­gen soll sich jeder Rei­sen­de wie­der auf den Rück­weg bege­ben.

Ganz ähn­lich geht das Rei­sen in die „obe­re Welt“, erklärt sie uns, nur dass man sich hier kein Loch im Boden sucht, son­dern etwas, das nach oben führt, eine Lei­ter oder einen Licht­strahl viel­leicht. Oft wird man auch von sei­nem Kraft­platz abge­holt. In der obe­ren Welt sind die geis­ti­gen Leh­rer zu fin­den. Sie erschei­nen in Men­schen­ge­stalt und, wenn man Glück hat, reden sie mit einem. Was nicht heißt, dass nicht auch Kraft­tie­re reden oder in die obe­re Welt mit­kom­men kön­nen, denn grund­sätz­lich ist alles mög­lich. Soweit die theo­re­ti­sche Ein­füh­rung.

Nach­dem sich alle auf dem Boden ein­ge­rich­tet haben, erfüllt nur noch der mono­to­ne Klang der Trom­meln den Raum. Jetzt ist jeder von uns mit sei­ner Angst und sei­ner gespann­ten Erwar­tung allein. Wir sol­len immer mit einer kla­ren Absicht rei­sen (in die­sem Fall: ein Kraft­tier für uns zu fin­den), aber ohne Erwar­tung. Wie soll das gehen? Natür­lich habe ich Erwar­tun­gen, ich bin ganz voll davon – und auch voll von Angst, vor allem vor dem Ver­sa­gen. Wer­de ich hier, qua­si auf Kom­man­do, etwas spü­ren kön­nen? Bis­lang habe ich noch nie den Zeit­punkt mei­ner Erleb­nis­se selbst bestimmt. Sie pas­sier­ten ein­fach. Oder wer­de ich alle Gren­zen über­schrei­ten, mich ver­lie­ren und beängs­ti­gen­de Din­ge erle­ben? Wem wer­de ich begeg­nen? Wohl­mög­lich einer Maus? Oder einer Spin­ne? Wie ent­täuscht wäre ich da! – Wie­so ent­täuscht? Wäre das etwa nicht gut genug für mich? … So schie­ßen mir tau­sen­der­lei Gedan­ken durch den Kopf. Wäh­rend mir klar wird, wie sehr ich noch mit ande­rem beschäf­tigt bin, erin­nert mich der uner­bitt­li­che Klang der Trom­mel dar­an, dass die Zeit ver­rinnt. Nur eine Vier­tel­stun­de haben wir für unse­re Rei­se. Ist die Zeit wohl­mög­lich schon um? Und ich habe noch nicht ein­mal einen Kraft­platz, geschwei­ge denn ein Kraft­tier gefun­den. Ein Platz ist schnell klar: der Steg in Finn­land, wo mir der Wolf begeg­ne­te. Und schon ist wie­der eine neue Erwar­tung da: Der Wolf, natür­lich, ein Wolf muss her! Wür­de ich nun noch offen sein für ein ande­res Tier?

Um in die unte­re Welt zu gelan­gen, tau­che ich vom Steg aus in den See. Der dunk­le Tun­nel erscheint mir schier end­los. Zu mei­ner Über­ra­schung tau­che ich schließ­lich in dem ande­ren, viel klei­ne­ren See wie­der auf. Genau wie in Finn­land ist er dun­kel und von dich­tem Wald umge­ben. Doch kein Tier weit und breit. Schließ­lich sehe ich eine klei­ne schwarz-weiß gestreif­te Schlan­ge, die sich dicht unter der Was­ser­ober­flä­che schlän­gelt. Ich ver­su­che sie anzu­spre­chen, doch das Tier nimmt kei­ne Notiz von mir. Ich bin schon ganz ver­zwei­felt, da höre ich über mir ein tie­fes Kräch­zen. Der Rabe, natür­lich! Er war ja schon ein­mal in mei­ner Medi­ta­ti­on gekom­men und wenig spä­ter auch im Traum. Noch ehe ich ihn um Erlaub­nis fra­gen kann, ist er schon an mei­ner Sei­te. Als ich zusam­men mit dem Raben wie­der an mei­nem Steg ange­kom­men bin, ertö­nen gera­de die ers­ten acht schnel­le­ren Schlä­ge der Trom­mel. Mei­ne Rei­se hat ins­ge­samt also nicht ein­mal fünf­zehn Minu­ten gedau­ert, wobei ich die gan­ze ers­te Zeit inner­lich mit mir gekämpft habe. Erstaun­lich wie einem dort unten jedes Zeit­ge­fühl abhan­den­kommt.

In die obe­re Welt nimmt mich nun der Rabe mit. Es geht dar­um, einen geis­ti­gen Gefähr­ten in Men­schen­ge­stalt zu fin­den. Der Rabe ist ein­fach da, bevor ich mich noch auf mei­ne Absicht kon­zen­trie­ren kann. Auf Raben­schwin­gen darf ich nach oben in Rich­tung Mit­ter­nachts­son­ne rei­sen. Die fin­ni­sche Seen­land­schaft sieht von oben wun­der­schön aus mit ihren tie­fen, schwar­zen Wäl­dern und glit­zern­den Seen. Dann durch­bre­chen wir eine dün­ne Schicht, wie einen Wol­ken­schlei­er. Dar­über erscheint alles dif­fus, kei­ne kla­re Land­schaft wie in der unte­ren Welt. Alles ist in war­mes Licht getaucht. Sonst sehe ich auf die­ser Rei­se nichts. Ich kann jedoch etwas Männ­li­ches ganz nah an mei­ner Sei­te spü­ren. Ich füh­le, wie sich mir eine Hand auf die Schul­ter legt. Dann höre ich eine tie­fe, männ­li­che Stim­me. Sie sagt, ich sol­le den ein­ge­schla­ge­nen Weg ruhig und vol­ler Ver­trau­en wei­ter­ge­hen, dann sei er leicht und vol­ler Freu­de. Nur Unge­duld und Erwar­tung sei­en mei­ne Hin­der­nis­se. Ich soll mich immer dem anver­trau­en, was ich vor­fin­de, nichts hin­zu­er­fin­den und nichts hin­ein­deuten. Mehr Regeln gibt es nicht. Nun füh­le ich auch Juli­an an mei­ner Sei­te und fra­ge sie, ob es gut sei, mich die­ser Stim­me anzu­ver­trau­en. Sie sagt: „Ja, das ist Hor. Ihm kannst du ver­trau­en.“

Die Absicht unse­rer drit­ten Rei­se ist es her­aus­zu­fin­den, was unse­re Auf­ga­be in der spi­ri­tu­el­len Welt ist. Mein Rabe ist bei mir und kommt mir selt­sam erregt vor. Durch einen hohen schma­len Spalt im Fels betre­te ich eine Grab­kam­mer. Mei­ne Augen müs­sen sich erst an die Dun­kel­heit gewöh­nen. Dann erken­ne ich die Sil­hou­et­te eines gro­ßen, schlan­ken Man­nes im Pries­ter­ge­wand. Er ist dabei, eine Lei­che ein­zu­bal­sa­mie­ren. Die sti­cki­ge Luft in der Grab­kam­mer ist erfüllt von einer Mischung aus wohl­rie­chen­den Sal­ben und Tod. Ich wür­de am liebs­ten gleich wie­der gehen. Da höre ich wie­der die tie­fe Stim­me von der vor­he­ri­gen Rei­se und weiß, es ist Hor. In die Dun­kel­heit hin­ein sagt er: „Bleib. Du gewöhnst dich dar­an. War­te, bis ich fer­tig bin.“

Nach der Ein­bal­sa­mie­rung woh­ne ich einer Zere­mo­nie bei, bei der die See­le des Ver­stor­be­nen ins Jen­seits beglei­tet wird. Das geschieht mit selt­sa­men Gesän­gen, geheim­nis­vol­len Ges­ten und Momen­ten der Stil­le, die sich abwech­seln. Mich berührt das tief. Als ich fra­ge, was das alles mit mir zu tun hat, sagt Hor: „Du wirst die Ster­ben­den auf ihre letz­te Rei­se vor­be­rei­ten und ihre See­len hin­über­ge­lei­ten ans ande­re Ufer.“ Ich erschau­de­re und spü­re doch zugleich, dass es wahr sein könn­te. „War­um ich? War­um aus­ge­rech­net so eine Auf­ga­be?“ – „Es ist die schwers­te und hei­ligs­te aller Auf­ga­ben. Aber hab kei­ne Angst“, sagt Hor, „die­se Auf­ga­be kommt für dich erst sehr viel spä­ter. Dann wer­de ich da sein, um dich ein­zu­wei­sen.“ Dann war es wohl auch kein Zufall, dass sich der Rabe, der Toten­vo­gel, zu mir gesellt hat. Ich begin­ne zu ahnen, was da auf mich zukommt: Wie gut muss eine Beglei­te­rin der Ster­ben­den den Tod ken­nen? „Kei­ne Angst. Ver­traue!“, mahnt Juli­an sanft. Ver­trau­en scheint ein zen­tra­les Ele­ment die­ser Arbeit zu sein. Ver­trau­en setzt Mut vor­aus; sich trau­en. Habe ich die­sen Mut?

20140103_180756Auf einer wei­te­ren Rei­se in die obe­re Welt sehe ich an einem Gebirgs­bach eine alte India­ne­rin sit­zen. Sie scheint mit dem Was­ser zu spre­chen. Ich beob­ach­te sie lan­ge aus respekt­vol­ler Distanz. Zu ver­sun­ken wirkt sie, als dass ich sie stö­ren woll­te. Dann über­win­de ich mich sie anzu­spre­chen und fra­ge, was sie da macht. Sie sieht mich genau­so kon­zen­triert an wie zuvor den Bach. Ein war­mer, auf­merk­sa­mer Blick ist das. Dann erzählt sie mir, dass sie mit den Stei­nen spricht und ihren Geschich­ten lauscht. Wie­der schaut sie mich lan­ge an. „Auch du bist eine Stei­ne-Erzäh­le­rin“, sagt sie schließ­lich. „Das ist dei­ne Auf­ga­be im Reich der Kris­tal­le: Lass zunächst die Edel­stei­ne und die Halb­edel­stei­ne, die sind noch nichts für dich. Geh zu den gewöhn­li­chen Kie­seln und Feld­stei­nen. Die sam­melst du doch so gern. Sie war­ten schon dar­auf, dir ihre Geschich­ten anzu­ver­trau­en. Du wirst zuhö­ren und auf­schrei­ben, was sie zu sagen haben. Du darfst sie auch mit­neh­men, wenn du sie vor­her um Erlaub­nis fragst. Dan­ke, dass du gekom­men bist.“

(…)

Mein Ver­such, mei­ne geis­ti­gen Füh­rer als Ora­kel zu miss­brau­chen, schei­tert dage­gen kläg­lich. „Fra­ge nicht, was sein wird“, sagt Hor, „son­dern nur, was du tun kannst.“ – „Oder las­sen“, fügt Int­schi mit einem ver­schmitz­ten Lächeln hin­zu. „Oder glaubst du etwa, dass du dem Schick­sal wil­len­los aus­ge­lie­fert bist? So ist es nicht. Du bist hier, um dei­ne Wirk­lich­keit selbst zu gestal­ten. Ver­traue dei­ner inne­ren Füh­rung und hand­le danach. Mehr brauchst du nicht zu wis­sen. Also frag uns nicht mehr, was sein wird.“ – „Und was soll ich heu­te tun?“ – Mei­ne Rabin nimmt mich mit hoch zur Mit­ter­nachts­son­ne. Dort war­tet Hor schon auf mich: „Tu nichts, wenn du es nicht aus Lie­be tust. Du musst nichts tun. Nichts­tun ist völ­lig in Ord­nung.“ – „Hor, darf ich dich noch etwas fra­gen? – Ich möch­te ger­ne wis­sen: Seid ihr Wesen außer­halb von mir oder seid Ihr ein Teil von mir?“ – „Wir sind außer­halb von dir, und zugleich sind wir ein Teil von dir. Aber genau­so bist du ein Teil von uns.“ – „Kannst du mir das erklä­ren?“ – „Wir sind alle aus der Kraft. Wir sind Mani­fes­ta­tio­nen der Kraft. Und wenn wir es zulas­sen, sind wir zusam­men noch kraft­vol­ler als jeder für sich allein. Das gilt für euch Men­schen eben­so wie für uns geis­ti­ge Wesen. Wir brau­chen euch genau­so wie ihr uns. Wir kön­nen nur durch euch wir­ken. Des­halb sind wir so glück­lich, wenn ihr uns wahr­nehmt und uns ver­traut.“ – Ganz habe ich das noch nicht ver­stan­den, aber mei­ne Gefähr­ten signa­li­sie­ren mir, dass ich sie für heu­te genug aus­ge­fragt habe. Also bedan­ke ich mich bei allen und been­de mei­ne Rei­se.

Ich kann es kaum noch erwar­ten zu fas­ten. Ich war­te nur noch auf die ers­ten wär­me­ren Tage, weil ich beim Fas­ten immer so frie­re. Ich freue mich schon dar­auf, Tag für Tag ein biss­chen mehr aus mei­nem dicken Win­ter­pelz zu schlüp­fen und Stück für Stück neu gebo­ren zu wer­den – wie der Schmet­ter­ling aus sei­ner dicken Lar­ve. Nicht nur der Kör­per wird durch­ge­putzt, auch die See­le. Alle Kanä­le wie­der auf Emp­fang stel­len, alle Anten­nen auf Glück jus­tie­ren. Ich will die gan­ze Scho­ko­la­de, die mich an den lan­gen Win­ter­ta­gen über Was­ser gehal­ten hat (dan­ke, lie­be Scho­ko­la­de), aus allen Poren fas­ten. Ja, ich wer­de mit Son­nen­en­er­gie betrie­ben und mit Scho­ko­la­de. Und mit Lie­be, falls ver­füg­bar – dann lau­fe ich sogar zu Höchst­form auf.

Nur eine Sache möch­te ich vor dem Fas­ten noch wis­sen. Die Fra­ge beschäf­tigt mich schon lan­ge, und nichts liegt näher, als sie mei­nen Gefähr­ten zu stel­len. Also tromm­le ich ein biss­chen zur Ein­stim­mung. Dann bege­be mich an mei­nen fin­ni­schen Steg, wo mei­ne Gefähr­ten schon auf mich war­ten, und stel­le mei­ne Fra­ge:

Woher kommt mei­ne völ­lig unan­ge­mes­se­ne Angst vor dem Ver­hun­gern, und was kann ich dage­gen tun?“ Nicht nur der Wolf und die Rabin kom­men dies­mal an mei­nem Steg, son­dern auch Juli­an und Hor. Sie neh­men mich mit auf eine unge­wöhn­li­che Rei­se. Es geht weder in die obe­re, noch in die unte­re Welt, son­dern auf einem hori­zon­ta­len Strahl in eine ande­re Epo­che. Wir befin­den uns im Inne­ren eines dunk­len Ker­kers. Es riecht fau­lig und das ein­zi­ge Geräusch ist das Trop­fen des Was­sers von den Stei­nen. Als sich mei­ne Augen an die Dun­kel­heit gewöhnt haben, erken­ne ich in eine Ecke gekau­ert einen spin­del­dür­ren, bär­ti­gen Mann, der mich mit stump­fem Blick fixiert. Ich erschre­cke bis ins Mark, denn ich ken­ne die­sen Mann und die­sen Blick. Er ist mir schon mehr­fach im Traum begeg­net. Nach jedem die­ser Träu­me fühl­te ich mich aus­ge­saugt und kraft­los. Ich habe Angst vor die­sem Mann. Nur die Gegen­wart von Juli­an und Hor und den bei­den Tie­ren gibt mir den Mut aus­zu­har­ren und ihn anzu­spre­chen. „Wer bist du?“ fra­ge ich. – „Mein Name ist Nathan. Du kennst mich“, ant­wor­tet er mit erstaun­lich kla­rer, kraft­vol­ler Stim­me. „Ich bin dein Ahn.“ – „Was ist mit dir pas­siert?“ – „Man hat mich gefol­tert, in die­sen Ker­ker gewor­fen und ver­ges­sen. Außer mir ist kei­ner mehr da. Nicht das lang­sa­me Ver­hun­gern ist schlimm. Das Ver­ges­sen­wer­den ist es. Das lässt mir kei­ne Ruhe. Das Was­ser, das von den Stei­nen tropft, hält mich am Leben – und du. Denn du kennst das Ver­ges­sen­wer­den.“ Die­ser letz­te Satz lässt mich erschau­dern. Er hat recht, ich ken­ne das Gefühl. Als Säug­ling wur­de ich, wenn ich geschrien habe, oft weg­ge­sperrt. Mei­ne Eltern konn­ten sich wohl ein­fach nicht vor­stel­len, dass ich schon wie­der Hun­ger habe. Mei­ne älte­re Schwes­ter war so ganz anders gewe­sen. Ich dach­te, dass sie mich ein­fach ver­ges­sen und ich nun ver­hun­gern muss.

Ich begrei­fe, dass sich Nathan an mir fest­klam­mern und nicht los­las­sen wird, bis ich uns bei­de erlö­se. Ich will nur noch fort aus die­sem Ker­ker. Aber was kann ich tun, damit wir bei­de unse­ren Frie­den fin­den? – „Du wirst ein Toten­ri­tu­al für euch bei­de zele­brie­ren – zu gege­be­ner Zeit. Nun zu dei­ner zwei­ten Fra­ge“, ich schaue Hor fra­gend an, noch ganz gefan­gen von dem Erleb­ten. „Du weißt nun, dass dei­ne Angst vor dem Ver­hun­gern eine uralte Angst ist. Todes­angst ist nur mit Todes­angst zu besie­gen. Glei­ches wird mit Glei­chem geheilt.“ – „Du machst mir Angst“, sage ich. „Kei­ne Angst, du hast hier noch eine Auf­ga­be. Und den­ke immer dar­an, wir sind bei dir – viel mehr als du jetzt ahnen kannst …“

Und schon geht es wei­ter den Zeit­strahl ent­lang in eine wei­te Step­pen­land­schaft. Ein alter Bau­er kommt mir lächelnd ent­ge­gen. Er zeigt mir sei­ne win­zi­ge Hüt­te, in der er mit sei­ner Frau und sei­nem Vieh, Scha­fe und ein paar Hüh­ner, lebt. Die Epo­che ist eben­so schwer zu bestim­men wie zuvor beim Ker­ker. „Das Leben ist ein­fach, wenn der Zar weit ist“, lacht der Bau­er, als er sieht, wie mein Blick über sei­nen arm­se­li­gen Besitz wan­dert. – „Was hast du mir zu sagen?“ – „Du brauchst nur zu lie­ben“, und indem er das sagt, fasst er sei­ner Frau so kräf­tig um die Hüf­ten, dass sie auf­schreit, „zu sin­gen und dich um dei­ne Tie­re zu küm­mern. Alles Wei­te­re fin­det sich.“

Wei­ter geht es auf dem Zeit­strahl zurück in die Urzeit des Mensch­seins. Eine jun­ge Frau mit uralten Augen sitzt am Feu­er und stillt ihr Kind. An der Form des Kon­ti­nents erken­ne ich beim Anflug, dass es dort sein muss, wo sich heu­te die Saha­ra aus­brei­tet, doch zu einer Zeit, als die Wüs­te noch grün war. Die Frau singt vor ihrer Höh­le, und ihre Bot­schaft an mich ist: „Sin­ge die hei­li­gen, hei­len­den Gesän­ge für die Leben­den und die Toten, für Mensch und Tier.“ Ich weiß zwar jetzt noch nichts von die­sen Gesän­gen, aber ich weiß, dass ich sie zu gege­be­ner Zeit bekom­men und sin­gen wer­de. Erschöpft, glück­lich und dank­bar lan­de ich wie­der auf mei­nem Steg. Was für ein Aus­flug!

 

Die Sicherung

Nach genau­er Ana­ly­se mei­ner Situa­ti­on traue ich mich nun fest­zu­stel­len, dass sich die neu­en Erfah­run­gen und Erleb­nis­se, die Stim­men, die ich höre, und die Wesen, die ich sehe, nicht als Beein­träch­ti­gung in mei­nem All­tag aus­wir­ken. Im Gegen­teil: Ich spü­re immer bes­ser, wann an mei­nem Arbeits­platz eine klei­ne Kor­rek­tur not­wen­dig ist oder gar eine neue Wei­chen­stel­lung ansteht. Und ich kann mei­nen Vor­ge­setz­ten auch immer bes­ser von mei­nen Ide­en über­zeu­gen, zumal wenn er sie dann der Geschäfts­füh­rung gegen­über als sei­ne eige­nen aus­ge­ben darf. Seit mein Ego ander­wei­tig beschäf­tigt ist, berei­tet mir so etwas kei­ne all­zu gro­ßen Kopf­schmer­zen mehr. Der Frie­den ist mir wich­ti­ger, und wenn die Ide­en umge­setzt wer­den, ist das für mich Aner­ken­nung genug. Alles scheint so viel leich­ter gewor­den zu sein. Der Erfolg kommt nun fast ohne Anstren­gung und ermög­licht mir neben wach­sen­dem Anse­hen auch grö­ße­re Frei­hei­ten. Die wie­der­um kann ich nut­zen, um dem Ande­ren, dem Neu­en, den gebüh­ren­den Raum zu geben. Mei­ne Gefähr­ten hel­fen mir, mei­ne Arbeit schnel­ler, erfolg­rei­cher und mit grö­ße­rer Freu­de und Leich­tig­keit zu ver­rich­ten. Über­ra­schen­der­wei­se tun sie dies vor allem durch Zärt­lich­keit und Humor. Wenn ich mir aus ihrer Per­spek­ti­ve anschau­en darf, wie durch­sich­tig und zugleich unwich­tig all die klei­nen Eitel­kei­ten und Macht­spie­le im Grun­de sind. Oder wenn sie mich ein­la­den, in die Haut mei­nes Vor­ge­setz­ten zu schlüp­fen, sei­ne Ver­sa­gens­ängs­te zu spü­ren, sei­ne Sehn­sucht nach Sicher­heit und Aner­ken­nung, dann erken­ne ich dar­in beschämt mich selbst wie­der und wer­de wei­cher und nach­sich­ti­ger, ihm und mir selbst gegen­über. Immer wie­der laden sie mich ein, lie­be­voll über mich zu lachen und mich mit all mei­nen Schwä­chen so zärt­lich anzu­neh­men, wie sie es tun.

Dafür öff­ne ich mich ihnen immer mehr und schrei­be auf, was ich von ihnen emp­fan­ge. Es ist ein Geben und Neh­men und eine gro­ße Berei­che­rung! Auch habe ich seit der Begeg­nung mit dem Wolf immer das Gefühl, zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort zu sein. Es kom­men zufäl­lig immer die rich­ti­gen Bücher und Hin­wei­se, die ich gera­de im Moment benö­ti­ge. Viel­leicht, weil alles end­lich eine Rich­tung bekom­men hat, die mit mei­ner See­le über­ein­stimmt. Ich glau­be, ich weiß jetzt, was Glück ist, zumin­dest wie es sich anfühlt: Ich erle­be dann die Welt als eine war­me Frucht­bla­se, in der ich schwe­re­los schwe­be, und ich weiß, dass alles genau­so gut ist, wie es ist.

(…)

Heu­te kommt mir alles so dun­kel und leer vor. Schon beim Auf­wa­chen lud das wol­ken­ver­han­ge­ne Zwie­licht nicht dazu ein, den Tag zu begin­nen. Auch am Geschrei der Krä­hen kann ich mich nicht erfreu­en. Es klingt nach Streit. Ich bin mir fast sicher, dass ich das nur hin­ein­in­ter­pre­tie­re, und ent­schul­di­ge mich bei den Krä­hen. Ich spü­re förm­lich die geball­te Ladung Nega­ti­vi­tät, die ich aus­strah­le. Ich will den­noch ver­su­chen zu rei­sen. Es fällt mir unend­lich schwer, mich zu kon­zen­trie­ren. In mei­nem Kopf geht es zu wie in einem Irren­haus. Plötz­lich spü­re ich, wie mir schwar­ze Federn lang­sam und gleich­mä­ßig über das Gesicht strei­chen. Ah, mei­ne Rabin hilft mir, mich zu kon­zen­trie­ren. Schließ­lich bin ich soweit. Die Rabin holt mich ab und will mich in die obe­re Welt mit­neh­men. Doch mit­ten im schwar­zen Tun­nel bekom­me ich Angst und bestehe dar­auf umzu­keh­ren. Schon wie­der bre­che ich eine Rei­se ab. Ich habe momen­tan ein­fach kein Ver­trau­en. Am bes­ten lege ich mich jetzt in die Bade­wan­ne und lese ein ein­fa­ches Buch. Doch auch hier ärge­re ich mich über das Licht, das mir grell ins Gesicht scheint und doch, wegen des Ein­fall­win­kels, nicht wirk­lich zum Lesen geeig­net ist. Kaum dass ich die­sen Gedan­ken zu Ende gedacht habe, erlischt das Licht, und ich sit­ze im Dun­keln. Ich koche vor Wut, muss ich mich doch nun im Dun­keln abtrock­nen und anzie­hen und in der Küche nach Ker­zen suchen. Und das Lesen kann ich nun auch ver­ges­sen. Die Siche­rung kann es nicht sein, denn die elek­tri­sche Zahn­bürs­te geht noch. Wut­ent­brannt mon­tie­re ich die Bade­zim­mer­lam­pe ab, neh­me sie aus­ein­an­der, über­prü­fe die Anschlüs­se und schrau­be sie wie­der an. Es bleibt dun­kel. Was nun? Wenn ich durch mei­ne nega­ti­ve Ener­gie die Lam­pe dazu gebracht habe aus­zu­ge­hen, so muss es mir auch gelin­gen, sie durch ent­spre­chend posi­ti­ve Ener­gie­ein­wir­kung wie­der zum Bren­nen zu brin­gen oder?

Mit die­sem Anlie­gen rei­se ich. Mei­ne Rabin beglei­tet mich nach oben, wo ich zunächst gar nichts sehe. Dann höre ich eine tie­fe Stim­me hin­ter mir und weiß sofort: Das ist ein neu­er Leh­rer. Er tritt vor mich hin und stellt sich als Mahin­da vor. Ich bin etwas ent­täuscht, als ich ihn sehe, denn sei­ne Erschei­nung passt so gar nicht zu sei­ner attrak­ti­ven Stim­me. 20131230_162221Mahin­da ist ein dicker, kahl­köp­fi­ger klei­ner Mann im oran­ge­far­be­nen Mönch­sor­nat. Aber sei­ne lachen­den Augen mag ich auf Anhieb. Ich fra­ge ihn: „Wie kann ich mein Ver­trau­en stär­ken, und wie kann ich kraft mei­ner Ener­gie die Lam­pe wie­der zum Leuch­ten brin­gen?“ Ganz gut, dass ich heu­te kein so wich­ti­ges Anlie­gen habe, denn ich weiß ja noch nicht, ob ich die­sem neu­en Leh­rer auch ver­trau­en kann. „Die Lam­pe ist dein Leh­rer“, sagt Mahin­da, „sie wird dich leh­ren, Geduld und Beharr­lich­keit zu üben und zu ver­trau­en. Aber du musst wis­sen: Sie kann erst wie­der bren­nen, wenn du nicht mehr willst, dass sie brennt und dein Ego nicht mehr über den Erfolg tri­um­phiert. Du bist schon sehr gut, aber zwei Din­ge machen dir das Leben schwer: dei­ne Unge­duld und dei­ne Selbst­herr­lich­keit. Selbst­herr­lich­keit ist das Zerr­bild von Selbst­ver­trau­en. Sie ist ein Ersatz, eine Mas­ke. Selbst­herr­lich­keit kommt vom Ego, Selbst­ver­trau­en aus der See­le, vom Urver­trau­en. Ler­ne, dies zu unter­schei­den, und ler­ne Geduld.“ – „Wor­an genau erken­ne ich den Unter­schied?“ – „Selbst­herr­lich­keit braucht immer neue Bewei­se. Ihr kann es nie genug sein. Selbst­ver­trau­en braucht das nicht. Dar­an erkennst du den Unter­schied.“

Ich sehe, wie Juli­an, Int­schi und Hor im Halb­kreis für den Neu­an­kömm­ling Platz machen. Dar­an erken­ne ich wohl, dass ich auch ihm ver­trau­en kann. Ich wer­de also Mahin­das Rat befol­gen und es aus­pro­bie­ren. Ich betrach­te es als mei­ne ers­te scha­ma­ni­sche Auf­ga­be in der prak­ti­schen Welt. Mal sehen, ob ich mich als Zau­ber­lehr­ling bewäh­re. Ich wer­de all mein Ver­trau­en und mei­nen Glau­ben zusam­men­neh­men und solan­ge vor der Lam­pe medi­tie­ren, bis sie wie­der brennt.

20131230_162244Die letz­ten Tage habe ich immer wie­der Sit­zun­gen vor mei­ner Bade­zim­mer­lam­pe abge­hal­ten, um sie ener­ge­tisch davon zu über­zeu­gen, wie­der zu leuch­ten. Nein, falsch. Ich habe ver­sucht, mich selbst davon zu über­zeu­gen, dass es mir nicht wich­tig ist, ob die Lam­pe wie­der brennt oder nicht. Ich habe ver­sucht, der Lam­pe in absichts­lo­ser Lie­be zu begeg­nen. Aber ich habe mich noch nicht getraut, den Schal­ter zu betä­ti­gen und es aus­zu­pro­bie­ren – aus Angst vor einer Nie­der­la­ge. Gleich­zei­tig habe ich mich von außen betrach­tet und war froh, dass mir nie­mand zuschaut und am Ende doch noch an mei­ner geis­ti­gen Gesund­heit zwei­felt.

Jetzt ist der gro­ße Moment gekom­men: die Betä­ti­gung des Licht­schal­ters. Nichts pas­siert. Es bleibt dun­kel. Was soll das? Mei­ne Leh­rer haben mich doch dar­in bestärkt, es so zu machen. Ich füh­le mich ver­ra­ten, nicht nur von der Lam­pe, son­dern auch von mei­nen Leh­rern, vor allem von die­sem neu­en, Mahin­da. Er hat mir das ein­ge­brockt! Ich fin­de es päd­ago­gisch äußerst unge­schickt, mich gleich an mei­ner ers­ten Auf­ga­be schei­tern zu las­sen. Und unge­recht fin­de ich es auch. Ich hät­te es mir doch wirk­lich ver­dient nach allem, was ich schon ver­sucht habe. Zur Stra­fe wer­de ich jetzt ganz unscha­ma­nisch einen Elek­tri­ker rufen. Und sie­he da: Der tauscht ein­fach die Siche­rung in der Lam­pe aus, und schon brennt sie wie­der. So ein­fach ist das!

Auf die­ser Rei­se habe ich ein Anlie­gen! „Was soll­te das Gan­ze?!“ Juli­an, Hor und Int­schi sind da, und auch Mahin­da ist gekom­men. Alle vier kön­nen kaum noch an sich hal­ten vor Lachen. „Wie­so ärgerst du dich? Du hast das wun­der­bar gelöst“, sagt Mahin­da, „die Lam­pe brennt doch wie­der.“ – „Schon, aber was ist mit mei­ner scha­ma­ni­schen Auf­ga­be?“ – „Auch die hast du wun­der­bar gelöst. Du hast es immer wie­der gedul­dig pro­biert.“ – „Aber ohne Erfolg!“ – „Im Gegen­teil. Mit gro­ßem Erfolg. Die Lam­pe brennt, und du auch!“

(…)

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In die Wüste

Heu­te kann ich mich zu gar nichts auf­raf­fen. Drau­ßen ist so eine selt­sa­me Licht­stim­mung, dass ich immer nur zuschau­en möch­te. Alles ist in ein unwirk­li­ches, rotes Licht getaucht und ein war­mer Wind weht von Süden her. So etwas habe ich noch nie gese­hen.

DSCF2105Da ich mich gera­de wie­der so dick und häss­lich füh­le und mir als Trost nichts Bes­se­res ein­fällt als immer noch mehr Scho­ko­la­de, mache ich dies zu mei­nem nächs­ten Anlie­gen: Wie kann ich mich selbst bes­ser anneh­men, sodass ich nicht mehr so viel trös­ten­de Scho­ko­la­de brau­che? Mei­ne Rabin holt mich vom Steg ab. Wir flie­gen, dies­mal wie­der zusam­men, in eine ori­en­ta­li­sche Stadt am Ran­de der gro­ßen Wüs­te. Wir fin­den uns inmit­ten einer Grup­pe bunt geklei­de­ter, teils ver­schlei­er­ter Frau­en wie­der, die mich mit­neh­men in ein Bade­haus. Als wir uns ent­klei­den, sehe ich zu mei­nem Ent­zü­cken, dass all die­se Frau­en min­des­tens eben­so üppig sind wie ich. Sie zele­brie­ren ihre Kör­per mit so gro­ßer Sinn­lich­keit, dass es eine wah­re Freu­de ist, ihnen dabei zuzu­se­hen. „Das ist wah­re Schön­heit“, sagt die Rabin, „Es gehört Mut dazu, das zu begrei­fen. Du musst glau­ben und wis­sen, dass du schön bist, damit dich der Gedan­ke an dei­ne äuße­re Erschei­nung nicht von Wich­ti­ge­rem ablenkt. In der Wüs­te wirst du viel Wich­ti­ge­rem begeg­nen. Dann wird dich die­se Fra­ge nicht mehr beschäf­ti­gen.“ – Wie­so in der Wüs­te?

DSCF2270Im Radio höre ich, dass die son­der­ba­re Licht­stim­mung heu­te Mor­gen auf einen Höhen­sturm zurück­zu­füh­ren gewe­sen sei, der fei­nen, röt­li­chen Sand aus der Saha­ra tau­sen­de von Kilo­me­tern über das Meer und über die Ber­ge zu uns weh­te. Vie­le Hörer berich­te­ten davon, dass sie am Mor­gen eine fei­ne, rote Staub­schicht auf ihren Autos vor­ge­fun­den hät­ten.

Und dann kommt doch tat­säch­lich eine E-Mail von Fio­na, in der ein drei­wö­chi­ges Wüs­ten-Trek­king unter der Lei­tung einer süd­ame­ri­ka­ni­schen Scha­ma­nin ange­bo­ten wird. Sie emp­fiehlt mir drin­gend mit­zu­rei­sen. Nun ja, ich kann ja mal anru­fen, ob über­haupt noch ein Platz frei wäre. Ich hof­fe fast, dass es nicht so ist. Aber es soll wohl sein: Denn gera­de, als ich anrief, hat­te eine ande­re Teil­neh­me­rin abge­sagt; ich könn­te ihren Platz haben. – „Juli­an, soll ich in die Wüs­te?“ – Die Ant­wort ist” Ja”.

eidechse

***

So führt mich mei­ne Rei­se in die Saha­ra und spä­ter noch in den Dschun­gel Süd­ame­ri­kas. Das größ­te Aben­teu­er aber bleibt der All­tag..

dschungel

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