DIE WEISSE RABIN
Eine schamanische Reise zur Quelle meiner Kraft
Wer weiß?
Nur eine einzige anders gewählte Abzweigung und mein Leben wäre wohl ganz anders verlaufen. Wenn ich mir vorstelle, wie alles anfing, kommt mir dieses Abenteuer, das mein Leben geworden ist, immer noch fantastisch vor.
Jedes Mal, wenn ich an der hohen Mauer der Nervenheilanstalt vorbeifahre, überkommt mich ein Schaudern. Auch diese Abzweigung hätte meine werden können. Dann wäre diese weiße Schranke die Grenze meiner Welt geworden. Stattdessen überschritt ich die Grenze zu einer ganz anderen Welt, einer Welt voller Lachen und Staunen.
Eine leere Wohnung und ein leeres Buch
Weihnachtsmarkt. Was für ein Wahnsinn! Warum gehe ich hier überhaupt noch hin? Weil ich mir so gern an einem Becher Glühwein die Finger wärme, um mir im nächsten Moment die Zunge zu verbrennen? Um in strahlende Kinderaugen zu blicken, die es kaum erwarten können, an Heiligabend in Fluten von Spielzeug zu ertrinken? Spielzeug, das am nächsten Tag schon wieder unbeachtet in der Ecke liegt? Um mich von überlasteten Arbeitsmüttern anrempeln zu lassen, für die all dies heiliger Ernst ist oder einfach noch ein Geschäft, das erledigt werden muss? Oder um die alleinerziehenden Mütter zu bedauern, die keine Chance haben, mit ihren schmalen Einkommen den geschickt manipulierten Wünschen ihrer Sprösslinge gerecht zu werden?
Mir kommt es vor, als ob ein halbes Jahr lang Weihnachten herrscht. Jedes Mal fährt mir der Schreck in die Glieder, wenn ich im Oktober die ersten Weihnachtsmänner die tristen Kaufhausfassaden hochklettern sehe — mit ihren fetten Wohlstandswänsten, die eigentlich derart sportliche Leistungen unmöglich machen sollten. Und die trotzig funkelnden Lichterketten und blinkenden Weihnachtssterne, die im Februar noch immer die Balkone zieren – die würde ich am liebsten konfiszieren, wenn ich nur so gut Fassaden klettern könnte wie die Weihnachtsmänner.
Vielleicht flüchte ich auch nur wieder einmal vor meiner leeren Wohnung, die mir angesichts dieses bunten Budenzaubers noch kahler vorkommt, als sie nach Richards Auszug ohnehin schon ist. Während ich darauf warte, dass mein Glühwein abkühlt, sehe ich einem turtelnden Paar dabei zu, wie es sich gegenseitig mit einer fettigen Bratwurst füttert. Angewidert von dem Idyll lasse ich meinen viel zu süßen Glühwein stehen und suche mein Heil in der Flucht. Dabei brande ich gegen einen Stand mit wunderschönen Büchern. Als ich die Kostbarkeiten in die Hand nehme, blättere ich durch lauter leere Seiten. Genau wie dieses ganze, glitzernde, sinnentleerte Weihnachtsgetöse, denke ich. Schöner Schein und nichts dahinter. Ich wende mich schon wieder zum Gehen, da bemerke ich, wie mich der Verkäufer amüsiert beobachtet; ein mürrischer, alter Brummbär, der so tut, als wolle er nichts verkaufen. Vielleicht nervt ihn der ganze Trubel genauso wie mich. Nur hat er, im Gegensatz zu mir, wenigstens einen Grund hier zu sein.
Ein Tagebuch ist im Grunde nur eine Ansammlung von leeren, weißen Seiten. Einschüchternd viele, leere, weiße Seiten in einem kunstvollen Einband. Es wirkt, als dürfe man nicht irgendetwas hineinkritzeln, sondern nur Wohldurchdachtes und Strukturiertes. Kein Ort für Fragmente, Träume, lose Gedanken und Erinnerungen. Und erst recht kein Ort für all das Selbstmitleid, mit dem ich, seit Richard fort ist, meine Freundinnen bis zur Erschöpfung traktiere. Andererseits: Papier ist geduldig, heißt es – ganz im Gegensatz zu mir. Geduld gehört nicht zu meinen Tugenden. Mit dem Hintergedanken, dass etwas Selbstreflexion meine Trauerarbeit beschleunigen könnte, kaufe ich eines dieser schönen, hungrigen Buch-Monster. Am besten stürze ich mich gleich hinein, bevor meine Ehrfurcht davor noch größer wird.
(…)
Ironischerweise zog Richard an dem Tag aus, an dem wir heiraten wollten. Sicher, er hatte den Hochzeitstermin aus den verschiedensten, äußerst plausiblen Gründen immer wieder verschoben. Das hätte mich schon stutzig machen können. Aber schließlich waren wir ja verlobt und hatten unsere gemeinsame Wohnung gerade erst eingerichtet. Nun eröffnete er mir, dass er eine andere hatte. Wie banal das Leben sein kann – und wie traurig. Erst war ich ungläubig, dann schockiert, dann wütete ich und warf ihm alles Mögliche vor; zuletzt nur noch schlechtes Timing. Er blieb ruhig, gab alles zu und zuckte mit ehrlichem Bedauern die Achseln. Ich kann ihn nicht einmal richtig hassen für das, was er mir angetan hat. Ich weiß doch aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlt, wenn erst die Liebe geht und dann – wenn man einfach keine andere Wahl mehr hat, will man sich nicht selbst belügen. Nur aus der Perspektive der Verlassenen kannte ich dieses Gefühl bisher noch nicht. Ich bin fassungslos. Ich fühle mich mit meinen 37 Jahren alt, hässlich und weggeworfen. Und ich schäme mich – für meine Liebe und wohl auch für das, was ich früher anderen angetan habe.
Nun gehe ich abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, rastlos wie ein gefangenes Tier durch unsere nicht mehr gemeinsame Wohnung. Meine Schritte hallen durch die entmöbelten Räume, die zur Ruine meiner Träume geworden sind. Mein Bett fühlt sich auch dann noch kalt an, wenn ich stundenlang die Heizdecke eingeschaltet habe. Mein Kühlschrank ist immer voller Sachen, auf die ich so lange keinen Appetit habe, bis sie vergammeln. Der Enthusiasmus meiner Freundinnen, mich aufzuheitern, lässt auch allmählich nach. „Du musst wieder unter Menschen!“, sagen sie. Aber das mache ich ja – gerade heute wieder, auf dem Weihnachtsmarkt! Doch selbst wenn ich mich aufraffe und Tango tanzen gehe (es ist die einzige Musik, die melancholisch genug ist, dass ich sie ertrage), bin ich wie in einer Blase gefangen, durch die keine Fröhlichkeit von außen dringt. Als ob ich darin eine schwerere Luft atmen würde als die anderen draußen.
Vor ein paar Tagen ließ ich nach dem Tanzen versehentlich meine Hand in der Tür des Taxis, als der Taxifahrer sie zuwarf. Zwei Finger waren gebrochen. Es tat bestialisch weh. Die Tränen brachen wie ein Wasserfall aus mir heraus. Seitdem kann ich gar nicht wieder aufhören zu weinen. Es ist mir auch gleich, was die Kollegen denken, wenn ich mitten in einer Besprechung zu weinen anfange. Ich merke es ohnehin nur noch an der Reaktion der anderen und an dem kalten, nassen Stoff an meinem Hals. Es ist wie eine Befreiung. Hätte mir damals jemand gesagt, welches Ausmaß die Befreiung noch annehmen sollte, die mit diesem Dammbruch begann, ich hätte es nicht geglaubt.
Jetzt ist die Hand schon wieder einigermaßen verheilt. Meine Kollegen haben wahrscheinlich recht: Ich sollte Urlaub machen. Nur wo? Bloß keine Pauschalreise mit lauter glücklichen Paaren an Zweiertischen und Familien am Pool. Aber zwangs- animiert in einem Single-Club, in dem verzweifelte Torschlusspanik grassiert wie ein Virus, das ist auch keine Alternative. Nein, wenn schon, dann will ich in Ruhe meine Wunden lecken, ohne andere mit meinem Neid und meinem Selbstmitleid zu belästigen. Finnland wäre eine Möglichkeit. In der Einsamkeit dieser Landschaft würde ich mich vielleicht nicht mehr bloß wie die übrig gebliebene Hälfte eines Paares fühlen.
Auf nach Finnland
Ich habe eine kleine Hütte direkt an einem See in der Nähe des Polarkreises gebucht. Das einzige Kriterium, das ich in die Suchmaschine des Internet-Reiseveranstalters eingab: „größtmögliche Entfernung zum nächsten Nachbarn“. Und klein sollte sie sein, ein Puppenhaus für genau eine Person. Was bei meiner Suche herauskam, ist nicht nur das einsamste, sondern auch das billigste Häuschen, das zu haben war. Umso besser!
Ich beginne meine Finnlandreise mit bitter-süßem Tangokonfekt. Die Finnen, die mindestens ebenso tangoverrückt sind wie die Argentinier, haben in einem winzigen Ort namens Seinajoki ein Tangofestival, das seinesgleichen sucht. Das ganze Dorf wird zur Tanzfläche. Sogar den Sumpf legen sie mit Brettern aus. Das Durchschnittsalter der Tänzer ist hoch, und etwas anderes als fin- nisch wird hier nicht gesprochen, aber das mindert den Charme der Veranstaltung nicht im Gering- sten. Ich tanze mir die Seele aus dem Leib, lächle in Ermangelung von Worten, bis meine Gesichts- muskulatur schmerzt, und die Absurdität meines Hierseins lenkt mich ein paar Tage lang von meinem Kummer ab. Dann decke ich mich mit Lebensmitteln für zehn Tage ein, besteige einen Bus, und noch einen, und dann noch einen, bis ich mit Trekking-Rucksack und Einkaufstüten bepackt in einem Dorf aussteige, das nur aus drei Häusern und einer Tankstelle besteht. Hier werde ich von einem freundlichen älteren Herrn abgeholt. Während sein kleiner Wagen über endlose, staubige Schotterwege holpert, zählt mein Gastgeber alle deutschen Fußballvereine und -spieler auf, die er kennt. Es ist eine beachtliche Anzahl. Ich kann da nicht mithalten. Aber da das seine einzigen nicht-finnischen Worte sind, bleibt es unsere einzige Konversation.
Die erste Nacht ist kurz. Das liegt weniger an dem ungewohnt schmalen Bett und dem rettungslos zerschlissenen Moskitonetz als an diesem seltsamen Licht. Die Nacht besteht nur aus einer kurzen, rosafarbenen Dämmerung, dann klettert die Sonne schon wieder zügig in Richtung Zenit. Seit Sonnenaufgang sitze ich auf der kleinen Holzbank auf meinem Steg. Der See ist gleich vor dem Haus. Es ist ein großer See. Man kann das dicht bewaldete, gegenüberliegende Ufer kaum erkennen. Der Steg besteht aus einer kleinen Terrasse mit Bank, Stuhl und Tisch. Darauf dampft schon der Tee, den ich mir gerade auf dem Gaskocher zubereitet habe. Das winzige Häuschen ist nach Nord-Osten ausgerichtet und hat auch eine kleine Sauna. Die ist den Finnen fast noch wichtiger als ihr Haus. Später wird die Sonne wohl hinter den Bäumen, die nahe am Haus eine undurchdringliche Mauer bilden, verschwinden und den Steg im Schatten lassen. Das ist wahrscheinlich auch gut so, denn schon die Morgensonne ist so heiß, dass ich nackt hier sitzen kann. Hülle um Hülle habe ich bereits fallen lassen, seit ich mich mit Anorak und Vlieshose in den rosa Morgennebel setzte. Hier also will ich zu mir finden. – Wobei: ohne eine Portion „Bei-mir-sein“ wäre ich wohl gar nicht hier. Nun meldet sich ein Frühstückshunger; ich werde ihm nachgeben und später weiterschreiben.
Seit zwei Stunden versuche ich zu fischen. Der Steg liegt längst im Schatten, und so nahm ich mir das alte Ruderboot, das am Ufer lag, und ruderte hinaus auf den See. Eine improvisierte Angel fand ich im Schuppen neben dem Plumpsklo, und Würmer gibt es hier genug. Doch es ist wie verhext: Immer wenn ich die Leine wieder einhole, ist zwar der Wurm verschwunden, aber ein Fisch hängt nicht am Haken. Die Biester scheinen klüger zu sein, als ich dachte. So läuft das Ganze wohl auf eine kostenlose Fischspeisung hinaus, während meine Kost notgedrungen vegetarisch bleiben wird.
Immerhin: Die Sauna ist einfach zu bedienen. Ich habe schon Holz geholt und werde mir heute Abend so richtig einheizen. Nach jedem Saunagang in den dampfenden See zu steigen, darauf freue ich mich jetzt schon! Alles ist so herrlich einfach hier. Kein Strom, kein fließendes Wasser; mir wird bewusst, mit wie viel überflüssigem Luxus ich mich selbst in meiner halbleeren Wohnung noch umgebe. Ich werde zu Hause erst ein- mal gründlich ausmisten. Gerade hat sich ein Schmetterling auf die gegenüberliegende Seite meines Tagebuches gesetzt. – Nein, mir fehlt es hier wirklich an nichts.
Die Stille ist unbeschreiblich. Sie hüllt mich ein wie eine weich wattierte Jacke. Keine wild um sich schlagenden Kirchturmglocken, kein Gekläffe und Gehupe, keine Rasenmäher am Samstag. Nur der See und dieses unwirkliche Licht. Mit den Mücken und den Bremsen habe ich mich einigermaßen arrangiert. Ich bat sie, mich wenigstens an meinem Steg unbehelligt zu lassen, und sie versuchen offenbar wirklich, sich daran zu halten. Aber wehe, ich verlasse meinen Steg! Dann fallen sie umso gnadenloser über mich her. Ausflüge in den Wald zu unternehmen dürfte nahezu unmöglich sein. Abseits der staubigen Schotterstraße ist das Unterholz undurchdringlich, und die kleinen Biester saugen einen bis zum letzten Blutstropfen aus. Ich verzichte auch darauf, mein Wasser von der Quelle im Wald zu holen, die mir mein finnischer Gastgeber zeigte, und trinke stattdessen lieber direkt aus dem See. Ich lasse beim Schwimmen einfach den Mund offen.
Erstaunlicherweise lese ich hier wenig – viel weniger, als ich mir vorgenommen hatte. Aber lasse ich mich von meinen mitgebrachten Büchern unter Druck setzen? Nein, sollen sie doch ungelesen verschimmeln! Ich döse stattdessen einfach vor mich hin. Es erscheint mir unvorstellbar, dass ich mich hier langweilen könnte. Dazu ist das Licht zu prächtig, die Luft zu würzig und die Geräusche der Natur zu aufregend, wenn man die Stille erst einmal verstanden und gemerkt hat, dass sie in Wirklichkeit gar nicht so still ist. Vor allem die Nacht ist hier viel zu abwechslungsreich und schön, um sie zu verschlafen. Eine einzige lange Dämmerung ist das, voller fremdartiger Laute und ständig wechselndem Licht. Ich schlafe nur in den Mittagsstunden ein bisschen.
In dieser Nacht muss ich doch kurz eingenickt sein auf meiner Bank, und das, obwohl ich diese herrliche Vollmondnacht eigentlich auf gar keinen Fall versäumen wollte. Ich wache auf aus einem seltsamen, sehr lebendigen Traum. Darin begegnete ich einem großen weißen Polarwolf. Er sah mich aus seinen gelben Augen tief an und berührte sanft meine Stirn. Dann rieb er seine Schnauze an meinem Gesicht und streichelte mit der Pfote meinen Arm. Er saß so dicht hinter mir, dass ich seine warme, behaarte Brust an meinem Rücken spüren konnte. Schließlich ließ ich mich fallen und kuschelte mich in sein weiches Fell. Was für ein schöner Traum! Bin ich schon so ausgehungert?
So ein unwirkliches Licht
Heute ist ein seltsamer Tag. Das milchige Licht ist verwirrend diffus, und die kleinen Blutsauger sind noch angriffslustiger als sonst. Heute halten sie sich an keine Vereinbarung. Auch die Krähen krächzen nervös. Gerade als ich mich in mein Buch vertiefen will, knackt es über mir unheilvoll. Im selben Moment schlagen fast gleichzeitig drei schwere Kiefernzapfen dicht neben mir auf dem Steg auf. Sie verfehlen mich nur um Haaresbreite. Nein, Schluss jetzt! Hier habe ich heute keine Ruhe mehr zum Dösen oder Lesen. Ich fühle mich ungeliebt und vertrieben. Erinnerungen an die Trennung von Richard kommen hoch. Keiner will mich, nicht einmal die Natur hier in dieser menschenleeren Wildnis! Den Mücken zum Trotz mache ich jetzt doch einen Spaziergang. Vielleicht wird mich das aufheitern oder wenigstens ablenken. Irgendeinen Weg durchs Unterholz werde ich mir schon bahnen. Ich nehme einfach das kleine Beil mit, das ich im Schuppen gefunden habe.
Hinter dem dichten Wäldchen kommt gleich die Straße. „Straße“ ist eigentlich eine hochtrabende Bezeichnung für einen staubigen Sandweg, der nirgendwohin führt. Keine Autos, keine Menschen in dieser gottverlassenen Gegend, nur diese trübe und doch sengende Sonne und Heerscharen von Moskitos. Aber gut, das hatte ich mir so ausgesucht. Mein Ziel ist der große graue Berg vor mir, eine ferne Silhouette in diesem unwirklichen Licht.
Das ständige Summen der gierigen kleinen Vampire macht mich wahnsinnig. Auch die endlosen Lupinenfelder mit ihren leuchtenden Farben können meine Stimmung nicht aufhellen. Ich laufe immer schneller, gerade so als könnte ich den Mücken und meiner Trauer davonlaufen. Endlich erreiche ich den Wald am Fuß des Berges. Nicht, dass mir der Wald Schutz vor den kleinen Biestern böte, im Gegenteil. Ich wehre mich nur nicht länger und überlasse ihnen einfach meinen Körper. Die Stiche jucken ohnehin nur kurze Zeit. Offenbar kommen die Mücken hier mit so wenig Gift in Berührung, dass ihre Bisse schnell wieder abschwellen.
Tatsächlich finde ich einen schmalen, kaum erkennbaren Pfad durch das Walddickicht. Er führt geradewegs zum Fuß einer Felswand. Kletternd suche mir einen Pfad über Ritzen und Mulden nach oben. Die Hälfte der Strecke lege ich auf allen Vieren zurück. Das konzentrierte Klettern lenkt mich von meinen Gedanken ab. Weiter oben gibt es keine Bäume mehr, nur noch kleine, verwachsene Sträucher. Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel. Der Ausblick ist atemberaubend. Die einsame Seenlandschaft liegt unter mir wie eine Landkarte. Keine Anzeichen von menschlicher Besiedelung weit und breit. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass ich mich auf einer Halbinsel inmitten eines riesigen Sees befinde, deren höchster Punkt der Felsen ist, auf dem ich stehe. Das Lupinenfeld mit der staubigen Straße ist die einzige Verbindung zum Festland. Direkt unter mir sehe ich tief im dichten Wald einen kleinen, schwarzen Tümpel. Dieses schwarze Auge übt eine große Anziehungskraft auf mich aus. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, durch das Dickicht zu dem kleinen Moor-See vorzudringen, aber ich will es versuchen.
Mithilfe des Beils bahne ich mir einen Weg durch den von Mücken verseuchten, sumpfigen Wald. Der See ist tiefschwarz, kein Grund zu sehen – nirgendwo. Ohne zu überlegen, reiße ich mir meine verschwitzten Kleider vom Leib und stürze mich ins Wasser. Es ist warm, braun und weich, ganz anders als das kalte, klare Wasser des großen Sees. Als ob es nicht dasselbe Element wäre. Ich genieße es, mich auf diesem dunklen, grundlosen Wasser treiben zu lassen.
Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, ist, dass es zwar leicht ist, hineinzukommen in das moorige Wasser, aber nahezu unmöglich, wieder hinaus- zugelangen. Zunächst versuche ich, an der Stelle aus dem Wasser zu kriechen, an der meine Kleidung liegt. Doch es ist wie ein böser Traum. Je näher ich dem Ufer komme, desto tiefer versinke ich im moorigen Grund. Schwimmend sehe ich mich um. Überall sieht das Ufer gleich aus. Langsam steigt Panik in mir hoch. Soll ich etwa in diesem düsteren Moor-See ertrinken? Ich zwinge mich zu einer klaren Ana- lyse meiner Lage und suche schwimmend das Ufer nach etwas Festem ab, das mir Halt zum Aussteigen bieten könnte. Doch das Wasser ist so trüb, dass ich kaum ein paar Zentimeter weit nach unten blicken kann. Ich beschließe, trotz meiner Erschöpfung nur noch mit der Kraft meiner Arme am Ufer entlang zu schwimmen und meine Beine dabei wie ein Lot in die Tiefe baumeln zu lassen. Endlich ertaste ich unter der Wasseroberfläche einen flachen Felsen, der mir als Ausstieg dienen könnte. Mehrmals rutsche ich von dem glitschigen Stein ab, doch dann gelingt es mir, darauf zu stehen. Und nun? Beim ersten Schritt vom Felsen ans Ufer versinke ich gleich wieder bis zu den Schenkeln im Morast. Aber dem See bin ich glücklich entronnen!
Irgendwie gelingt es mir, splitternackt durch den Schlamm robbend, die hundert Meter bis zu meinen Kleidern zurücklegen. Als ich endlich mein T-Shirt im Gestrüpp am Ufer hängen sehe, bin ich erleichtert. Ich sehe zwar aus wie eine Moorleiche, aber ich habe es geschafft! Ich traue mich natürlich nicht mehr ans Wasser, um mich zu waschen. Also steige ich, schlammig wie ich bin, in meine Kleider. Es ist ein seltsames Gefühl, als der Schlamm auf dem Rückweg an meinen Armen und Beinen langsam zu einer dünnen Kruste trocknet. Nur an den Stellen, an denen ich schwitze, fließt er an mir herunter. Ich versuche mich damit zu trösten, dass das sicher sehr gesund ist und auch dazu beiträgt, dass meine Stiche weniger jucken.
Die Dämmerung hat längst eingesetzt, als ich endlich, und sicher nicht auf dem direktesten Weg, zu meiner Hütte zurückfinde. Es muss schon lange nach Mitter- nacht sein. Ich heize die Sauna an und reinige mich im klaren Wasser meines – wie ich nun weiß – riesigen Sees. Eigenartig, dass dieser kleine Moor-See, der mich fast als Leben gekostet hätte, unschuldig eingebettet wie ein Embryo in diesem großen See liegt. Ich bringe beides in meiner Vorstellung nicht zusammen. Es ist wie ein Traum. Der Traum entsteht in mir, kommt aus mir, und hat doch etwas ganz Eigenes, Fremdes, scheinbar nicht zu mir Gehörendes – so wie dieser kleine schwarze See im großen blauen See.
Nach meinem bestandenen Abenteuer mache ich mir heute einen faulen Tag. Ein paar Seiten in meinem Buch, dann wieder dösen, Spagetti mit Pesto und wieder dösen. Alles ist friedlich, sogar die Kiefer über mir. Selbst den Bremsen und den Mücken scheint es zu heiß zu sein. So kann ich es richtig genießen, nackt im Halbschatten auf meiner Decke zu liegen. Hier, am äußersten Ende des Stegs fällt gerade die richtige Dosis Sonne durch die Zweige.
Ich bin schon fast eingenickt, da spüre ich einen heißen Atem an meiner Stirn. Als ich die Augen öffne, blicke ich in die gelben Augen eines Wolfs! Ich bin sofort hellwach und zu Tode erschrocken. Einem tiefen Urinstinkt folgend denke ich nur noch an Flucht. Aber da der Wolf mir den Weg zum Haus abschneidet, bliebe mir nur der Sprung ins eiskalte Wasser des Sees, wohin er mir leicht folgen könnte. Er ist sicher ein besserer Schwimmer als ich. Während mir solche Gedanken durch den Kopf jagen, bleibe ich äußerlich regungslos wie unter Schock. Das Tier scheint lange nicht so erschrocken wie ich, weicht aber angesichts meiner verängstigten Reaktion respektvoll einige Meter zurück. Ich bin für ihn wahrscheinlich nichts als ein nacktes, zitterndes Bündel Fleisch. Wir schauen uns lange in die Augen, als ob er darauf warten würde, dass ich mich endlich beruhige. Schließlich trollt sich der Wolf genauso lautlos, wie er gekommen ist. Ich bin immer noch dabei, mich von dem Schreck zu erholen. Aber dieser Blick! – Diese warmen, gelben Augen!
Erst nach und nach wird mir die Kostbarkeit dieser Begegnung bewusst. Ärgerlich, die Angst, mit der ich reagiert habe! Ich wünschte, der junge Wolf würde noch ein- mal wiederkommen, dann würde ich versuchen, anders zu reagieren. Aber er kommt nicht mehr. Was soll er auch mit mir anfangen, einem ängstlichen, nackten Menschenweibchen? Er ist sicher längst weitergezogen, um sich eine hübsche Wölfin zu suchen und mit ihr ein neues Rudel zu gründen. Ich notiere: Den „bösen Wolf“ muss nur fürchten, wer ein Schaf ist. Und wie zur Strafe für meine nach- trägliche Aufmüpfigkeit knallt wieder ein dicker Kiefernzapfen neben mir aufs Holz. Und noch einer. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich erst einmal aus der Schuss- linie begebe.
Ein anonymer Auftrag
In dieser Nacht träume ich wieder. Eine weibliche Stimme fordert mich auf, ein Buch über Religion zu schreiben. Absurd. Ich kann ihr nur so viel antworten: Für anonyme Aufträge jedweder Art bin ich erstens nicht zu haben. Zweitens gibt es wohl kaum etwas, mit dem ich mich weniger auskenne und für das ich mich weniger interessiere als Religion. Ich bin im unerschütterlichen Glauben an die restlose, rationale Erklärbarkeit der Welt aufgewachsen. Meine Mutter war Atheistin, und mein Vater traute sich nicht zuzugeben, dass er doch an so etwas wie Gott glaubte. Weihnachten ließ meine Mutter als „Brauchtum“ durchgehen. Dabei betonte sie immer, dass es eigentlich heidnischen Ursprungs sei. Meine Schwester und ich beteten heimlich vor dem Schlafengehen. Es war wie das Morsen an der Gefängniswand. Irgendetwas musste da draußen sein, was allem einen Sinn gab, gütig und gerecht war und mächtiger als unsere Eltern. Wir beneideten unsere Freundinnen heimlich um ihren Glauben an Gott. Aber Religion? Das erschien uns dogmatisch und intolerant und irgendwie unanständig.
Inzwischen gehören Yoga und Meditation zu meinem Alltag wie das Zähneputzen, aber das hat rein pragmatische Gründe, und ich betrachte es keineswegs als Religion. Meditation ist mein (zumeist) hilfloser Versuch, den mehr oder weniger fröhlichen Lärm in meinem Kopf für Augenblicke zum Schweigen zu bringen oder wenigstens zur Abwechslung mal von außen zu betrachten. Yoga war das Einzige, was mir vor Jahren half, nach einem Fahrradunfall mein Schleudertrauma in den Griff zu bekommen. Und nun fordert mich eine ominöse Stimme auf, ein Buch zu schreiben ausgerechnet über Religion?
(…)
Gerade als ich auf meinem Steg vor mich hin döse, höre ich wieder die Stimme aus meinem Traum. Sie diktiert mir ein paar Sätze. Sie klingen wie der Anfang eines längeren Textes. Die Stimme ist nur innerlich hörbar, das heißt, ich fühle die Worte mehr als dass ich sie höre. Schwer zu beschreiben. Die Worte ergeben überraschenderweise einen Sinn und sind auf seltsame Weise schön. Ich schreibe sie auf.
Nun bekomme ich jeden Morgen einen kleinen Textabschnitt. Ich brauche nur zuzuhören. Tatsächlich geht es darin um so etwas wie Religion, aber nicht so, wie ich Religion immer verstanden habe, als etwas, das mit Kirche zu tun hat, sondern viel grundlegender: Es geht um die Liebe. Die Worte sind sehr schön und berühren mich tief. Nun ja, ich nehme an, wenn ich morgen hier wieder abreise, wird der ganze Spuk wohl vorbei sein. Egal. Schön war es jedenfalls: der schwarze See, der Wolf, die Träume, diese innere Stimme … – Ich nehme mir vor, mir auch zu Hause, im Alltag, immer wieder kurze Zeiten der Stille zu gönnen, in denen ich nichts tue, rein gar nichts, nicht einmal lesen. Ich möchte wenigstens den inneren Raum dafür zur Verfügung stellen, dass so wundersame Dinge geschehen können wie hier.
Wieder zu Hause
Ich wage es kaum, diese schrecklich große, leere Wohnung so zu nennen: „zu Hause“. Aber rauszugehen unter Menschen macht mir auch keine rechte Freude. Die Stadt stumpft mich ab. Zu viele Eindrücke, die ich in dieser Fülle gar nicht verarbeiten kann. Also blende ich sie notgedrungen aus und büße so nach und nach meine Aufmerksamkeit ein. In der Natur geschieht mit mir das Gegenteil: Die Sinne werden geschärft, die Sensibilität verfeinert, jedes Detail wird bedeutsam und das Ganze als Komposition seiner Einzelteile spürbar. Am besten kann ich das wahrnehmen, wenn ich allein bin. Seit Finnland bin ich offenbar empfindlicher geworden. Brauchen wir Menschen den Lärm der Welt, weil die Stille uns Angst macht, uns mit unserer eigenen Grenzenlosigkeit konfrontiert?
(…)
In Norwich zieht es mich in eine kleine Kirche am Stadtrand, die mir früher nie aufgefallen war, schließlich gibt es über fünfzig Kirchen in Norwich. Sie liegt eher unromantisch am Rande einer Großbaustelle. In einem Nebenraum ist eine kleine Kapelle für Julian of Norwich eingerichtet worden, die hier im 14. Jahrhundert gelebt haben soll. Der Raum ist recht lieblos renoviert und hergerichtet und lädt nicht zum Verweilen ein. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich hier soll.
Als ich gerade wieder gehen will, höre ich eine weibliche Stimme hinter mir. Reflexartig drehe ich mich um, doch außer mir ist niemand im Raum. Dann erkenne die Stimme wieder: Es ist dieselbe, die mir vor ein paar Monaten in Finnland den Text diktiert hat! Diesmal brauche ich die Worte nicht erst innerlich zu „übersetzen“. Die Stimme sagt deutlich vernehmbar: „Ich bin so glücklich, dass du gekommen bist. Du wirst meine Arbeit fortführen. Ich weiß, dass sie bei dir in guten Händen ist.“ Es liegt so viel Freude und Erleichterung in dieser Stimme! Dann war es also Julian, die mir den Text diktiert hat, Julian of Norwich! Ich bleibe noch, bis ein Mann die Kapelle betritt und sich zum Beten niederlässt. Mit gemischten Gefühlen verlasse ich diesen seltsamen Ort. Nun habe ich quasi die Autorin meines schönen, kleinen Textes kennengelernt, der portionsweise über einen Zeitraum von zwei Wochen kam, und dann ganz organisch endete. Wie gern hätte ich ein Gesicht zu dieser warmen, feinen Stimme. Wie gern würde ich Julian in die Augen sehen! Dann überfallen mich wieder die üblichen Zweifel, ob das alles überhaupt sein kann oder ob ich mir das nur einbilde. Aber langsam kommen mir diese Zweifel wie zahnlose Tiger vor, die mich nur noch routinemäßig und ohne große Überzeugung anfallen, weil sie wissen, dass sie zunehmend an Boden verlieren.
Ich trau mich trotzdem nicht, meinem Studienfreund von diesem Erlebnis zu erzählen. Der würde mich sicher für heillos überspannt halten. Vielleicht bin ich das ja auch. Ich werde trotzdem alles aufschreiben, denn ich habe das Gefühl, dass dies erst der Anfang ist. Wer weiß, ob ich später selbst noch glaube, was mir gerade passiert ist. Auf jeden Fall will ich mehr über diese Julian wissen. Ich werde alles lesen, was sie geschrieben hat und was über sie geschrieben wurde. Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe!
Julian hat im 14. Jahrhundert als Nonne in Norwich gelebt. Sie wurde in der Mitte ihres Lebens schwerkrank und fieberte dem Tod buchstäblich als Erlösung entgegen, erholte sich aber wieder und wurde für damalige Verhältnisse sogar recht alt. Ihre Bücher erfüllen mich mit einer Mischung aus Begeisterung und Abscheu. Was sie über die Liebe schreibt, spricht mir vollkommen aus der Seele. Es muss zu ihrer Zeit geradezu revolutionär gewesen sein und nicht ungefährlich, von einer Liebe zu sprechen, die in jedem einzelnen von uns wohnt, und damit im Grunde Gott zu meinen. Aber die Schilderungen ihrer Verehrung für den Gekreuzigten stoßen mich ab. Mit dieser Mischung aus Blutrausch und Todessehnsucht kann ich wenig anfangen. Was mich am meisten berührt, ist der schlichte Satz: „All shall be well, and all shall be well, and all manner of things shall be well.“ Was für ein tiefes Gottvertrauen sie trotz ihrer schweren Krankheit gehabt haben muss!
„Julian, liebe Julian! Was machst du bloß mit mir?“ Vielleicht spinn ich jetzt völlig, aber gerade hörte ich wieder ihre Stimme. Nach einer missglückten Morgenmeditation in meiner kleinen B&B-Pension, in der ich erst immerzu an meine kalten Füße denken musste und mich dann darüber ärgerte, dass ich nur an meine kalten Füße dachte, versuchte ich mich mit dynamischen Yoga-Übungen aufzuwärmen. Da höre ich wieder ihre Stimme: „Das habe ich in meiner Zelle auch immer gemacht.“ Ich fahre herum, und da ist sie. Ich sehe sie nicht so klar und dreidimensional wie einen Menschen aus Fleisch und Blut, eher verschwommen und in Umrissen, mal mehr, mal weniger deutlich – als ob sich meine Augen erst an diese Art des Sehens gewöhnen müssten. Aber dafür sehe ich sie sehr viel bunter als einen „realen“ Menschen. Sie sieht ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe: Sportlich und modern wirkt sie, trotz ihrer Nonnentracht. Und klein. Sie reicht mir kaum bis zur Schulter. Unglaublich temperamentvoll und lebendig ist sie und von einer rosafarbenen Aura mit weißem Kern umgeben. Kaum zu glauben, dass sie schon sechshundert Jahre tot ist.
Julian versucht sich gerade an einer meiner Yoga-Übungen und lacht, weil es ihr nicht gelingen will. Die Situation wirkt so unwirklich und real zugleich, dass ich nicht groß darüber nachdenke, sondern gleich herausplatzte: „Das kannst du gar nicht kennen! Das ist Yoga und kommt aus Indien, und du bist eine mittelalterliche Nonne.“ – „Stimmt“, lacht sie verschmitzt, „aber die Übungen sind doch sehr ähnlich.“ Und was sie mir nun zeigt, hat tatsächlich viel mit meinen Yoga-Übungen gemeinsam.
„Ich freue mich so, dass du zu mir gekommen bist. Ich konnte einfach nicht länger nur zuschauen. Als du mich in meiner Zelle besucht hast, musste ich mich dir einfach zu erkennen geben. Ich hoffe, du bist mir deswegen nicht böse“, sagt sie. „Wirst du meine Arbeit fortführen?“ – „Was meinst du denn mit deiner Arbeit? Weißt du, ich habe solche Probleme mit den Showings, die du geschrieben hast. Die ganze Christus-Verehrung und dein Wunsch zu leiden, das kann ich nicht nachvollziehen, es stößt mich ab. So sehr, dass ich dein Buch nicht mehr bei mir behalten wollte und es verschenkt habe. Ich hoffe, dafür bist du mir nicht böse.“ – „Das verstehe ich gut. Und ich verstehe auch, dass dir dieser Teil fremd ist. Aber es genügt völlig, sich auf die Liebe zu konzentrieren. Das war auch für mich immer das Wesentliche. Du musst verstehen, unter welchen Umständen ich damals gelebt und geschrieben habe. Die Christus-Verehrung war für Mystiker damals sehr wichtig. Und für Mystikerinnen erst recht, wollte man nicht den Verdacht der Ketzerei erregen. Und ich wollte die Menschen ja auch erreichen mit dem, was ich sah und aufschrieb. Wie hättest du denn an meiner Stelle gehandelt? Zu meiner Zeit war es für eine Frau nicht üblich, allein zu leben und einfach zu tun, was ihr gefällt, so wie du heute. Und die Männer waren entweder Priester und Mönche oder sie waren spirituell im tiefsten Mittelalter.“
Über ihren letzten Satz mussten wir beide lachen. „Heiraten kam für mich nicht infrage. Ich hätte es mit keinem dieser Männer ausgehalten. Das wäre nur körperliche und geistige Sklaverei gewesen. Also kämpfte ich darum, Nonne werden zu dürfen. Aber dann? Ich hatte doch auch meine Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Lieber einen Seelenpartner, den ich mit vielen teilen muss, Jesus Christus, als überhaupt keinen. Vielleicht kannst du wirklich nicht verstehen, wie sinnlich – du würdest sagen ‚erotisch’ – die Passionsvorstellungen für mich waren. Und die Todessehnsucht, die dich so befremdet. – Weißt du, der Tod war für uns früher ganz normal. Er hatte für uns keinen Schrecken, so wie für euch. Oft war er als ersehntes Ende eines beschwerlichen Lebens sogar willkommen. Aber ich war so von unserer Aufgabe und Vision überzeugt (sie spricht immer von „unserer“ Aufgabe), dass ich am Ende meine Krankheit überwand und im Leben blieb. Ich wurde sogar recht alt, wie du weißt. Ich wollte immer, dass die Menschen die göttliche Liebe spüren und untereinander leben. Dass sie getröstet werden durch sie, und auch dass das Leben hier ein bisschen besser wird.“
(…)
Heute bekam ich in meiner Meditation Besuch. Gerade als ich mich zu meinem „Danke, dass alles so ist, wie es ist“, mit dem ich jede Meditation beginne und beende, verbeuge, spüre ich, wie etwas meinen Hinterkopf streift. Es ist ein Rabe. Ich weiß natürlich, dass es kein wirkliches Tier aus Fleisch und Blut ist. Aber ich spüre deutlich, wie er seine Schwingen ausbreitet und mich an beiden Schultern berührt. Obwohl sich die Berührung sehr sanft, fast zärtlich anfühlt, ist mir nicht wohl dabei. Hat mich Fiona nicht gewarnt, dass mir nicht alle Wesen, die mir jetzt begegnen, wohl gesonnen seien? Und der Rabe hat in unserer Kultur nicht gerade einen guten Ruf. Andererseits hat das der Wolf auch nicht, und der hat mich nicht verschlungen, sondern mir geholfen, mein Herz zu öffnen. Noch bin ich unsicher.
Im Traum nehme ich an einem Seminar teil, das in der Wüste stattfindet. Der Seminarleiter teilt uns in zwei Gruppen ein. Ich bin querschnittsgelähmt und mit zwei anderen Behinderten in der kleineren Gruppe. Ich komme früher als alle anderen in den morgendlichen Seminarraum gefahren. Dort sitzt ein Rabe, als ob er auf mich gewartet hätte. Er hüpft auf meinen Schoß und lässt sich von mir streicheln. Später spricht mich der Seminarleiter auf den Raben an und bittet mich eindringlich, mit ihm an den Fluss hinunterzugehen. Ich soll trotz meiner Behinderung in das Wasser des wilden Flusses steigen. Um mich zu überreden, schwärmt er mir von der Unterwasserwelt des Flusses vor. Er verschweigt aber auch nicht, wie tückisch die Strömungen sind, und zeigt mir eine detaillierte Karte des Flusslaufes. Trotz meiner Angst entscheide ich mich hineinzugehen. Damit ist der Traum zu Ende.
Er erinnert mich an meine Kindheit: Als ich noch klein war, tat ich mich schwer, schwimmen zu lernen. Mit unendlicher Geduld versuchten meine Eltern, mich davon zu überzeugen, dass mich das Wasser trägt, wenn ich nur ein paar kleine Bewegungen mache. Ich aber hatte panische Angst davor, die Sicherheit des Beckenrandes und meiner Schwimmflügel gegen das große Unbekannte einzutauschen. Als ich mich dann endlich überwunden hatte, war das so wunderschön, dass ich überhaupt nicht mehr aus dem Wasser wollte und meine Mutter gelegentlich nachsah, ob mir schon Schwimmhäute gewachsen waren. Ganz ähnlich fühle ich mich heute – ich lerne zum zweiten Mal schwimmen … und der Rabe erscheint mir, nach der freundlichen Wiederbegegnung im Traum, nicht mehr ganz so unheimlich.
In fünfzehn Minuten um die Welt
Ich habe mich entschieden. Ich werde hineingehen und mich, wie in meinem Traum, dieser anderen Welt stellen. Ich habe mich für einen Grundkurs in Schamanismus angemeldet – ausgerechnet ich, die noch vor so kurzer Zeit nichts als Verachtung für alles Esoterische übrig hatte. Nun bin ich hier in den Bergen, in Österreich, in einer Gruppe von circa dreißig Menschen, deren Motivation hier zu sein, sehr unterschiedlich ist. Einige kommen aus Neugier, andere, um die Leere in ihrem Leben auszufüllen, und manche, weil sie Erfahrungen gemacht haben, die sie nicht einordnen können und die ihnen Angst machen – so wie ich. Für unsere Kursleiterin ist alles reine Routine. Wir fangen ohne lange Erklärungen gleich mit dem schamanischen Reisen an. „Kaum einer schafft es nicht“, beruhigt sie unsere Versagensängste. „Vor zwanzig Jahren, als ich anfing, war das anders. Da war es für die Menschen nicht so einfach, die Schwelle zur anderen Welt zu überschreiten.“
Und wirklich: Nur zwei von uns spüren während der ersten Reise wenig oder nichts. Unsere Kursleiterin macht nicht viel Aufhebens um das Reisen. Nur eine Augenbinde, für die, die meinen, sie zu brauchen, eine kurze Anleitung, wie wir vorgehen sollen, und schon geht es los. Zum monotonen Klang der Trommel legen wir uns auf den Boden. Jeder stellt sich einen Kraftplatz in der Natur vor, den er kennt und liebt. Dort beginnt die Reise.
Zunächst sollen wir uns in der „unteren Welt“ auf die Suche nach einem Krafttier machen. Dazu suchen wir uns einen Eingang in diese Welt, ein Loch im Boden, einen See oder Teich, eine Ritze zwischen Steinen, was immer uns geeignet erscheint. Dort hinein kriechen wir und finden uns in einem Tunnel, durch den wir mehr oder weniger lange hindurchreisen. Von der Landschaft, die sich vor uns dann öffnet, dürfen wir uns überraschen lassen. Wir sollen aber keine Zeit verlieren, uns nach unserem Krafttier umzusehen. Zeigt es sich, sollen wir um Erlaubnis bitten, es einfangen und mitnehmen zu dürfen. Begegnen wir verschiedenen Tieren, so entscheiden wir uns für dasjenige, das auch Kontakt zu uns sucht. Dann nehmen wir es durch den Kanal, durch den wir gekommen sind, wieder mit nach oben. Dort erwarten wir das Rückholsignal: viermal acht Trommelschläge gefolgt von schnellem Trommeln und wieder viermal acht Trommelschlägen. Spätestens bei den ersten acht Trommelschlägen soll sich jeder Reisende wieder auf den Rückweg begeben.
Ganz ähnlich geht das Reisen in die „obere Welt“, erklärt sie uns, nur dass man sich hier kein Loch im Boden sucht, sondern etwas, das nach oben führt, eine Leiter oder einen Lichtstrahl vielleicht. Oft wird man auch von seinem Kraftplatz abgeholt. In der oberen Welt sind die geistigen Lehrer zu finden. Sie erscheinen in Menschengestalt und, wenn man Glück hat, reden sie mit einem. Was nicht heißt, dass nicht auch Krafttiere reden oder in die obere Welt mitkommen können, denn grundsätzlich ist alles möglich. Soweit die theoretische Einführung.
Nachdem sich alle auf dem Boden eingerichtet haben, erfüllt nur noch der monotone Klang der Trommeln den Raum. Jetzt ist jeder von uns mit seiner Angst und seiner gespannten Erwartung allein. Wir sollen immer mit einer klaren Absicht reisen (in diesem Fall: ein Krafttier für uns zu finden), aber ohne Erwartung. Wie soll das gehen? Natürlich habe ich Erwartungen, ich bin ganz voll davon – und auch voll von Angst, vor allem vor dem Versagen. Werde ich hier, quasi auf Kommando, etwas spüren können? Bislang habe ich noch nie den Zeitpunkt meiner Erlebnisse selbst bestimmt. Sie passierten einfach. Oder werde ich alle Grenzen überschreiten, mich verlieren und beängstigende Dinge erleben? Wem werde ich begegnen? Wohlmöglich einer Maus? Oder einer Spinne? Wie enttäuscht wäre ich da! – Wieso enttäuscht? Wäre das etwa nicht gut genug für mich? … So schießen mir tausenderlei Gedanken durch den Kopf. Während mir klar wird, wie sehr ich noch mit anderem beschäftigt bin, erinnert mich der unerbittliche Klang der Trommel daran, dass die Zeit verrinnt. Nur eine Viertelstunde haben wir für unsere Reise. Ist die Zeit wohlmöglich schon um? Und ich habe noch nicht einmal einen Kraftplatz, geschweige denn ein Krafttier gefunden. Ein Platz ist schnell klar: der Steg in Finnland, wo mir der Wolf begegnete. Und schon ist wieder eine neue Erwartung da: Der Wolf, natürlich, ein Wolf muss her! Würde ich nun noch offen sein für ein anderes Tier?
Um in die untere Welt zu gelangen, tauche ich vom Steg aus in den See. Der dunkle Tunnel erscheint mir schier endlos. Zu meiner Überraschung tauche ich schließlich in dem anderen, viel kleineren See wieder auf. Genau wie in Finnland ist er dunkel und von dichtem Wald umgeben. Doch kein Tier weit und breit. Schließlich sehe ich eine kleine schwarz-weiß gestreifte Schlange, die sich dicht unter der Wasseroberfläche schlängelt. Ich versuche sie anzusprechen, doch das Tier nimmt keine Notiz von mir. Ich bin schon ganz verzweifelt, da höre ich über mir ein tiefes Krächzen. Der Rabe, natürlich! Er war ja schon einmal in meiner Meditation gekommen und wenig später auch im Traum. Noch ehe ich ihn um Erlaubnis fragen kann, ist er schon an meiner Seite. Als ich zusammen mit dem Raben wieder an meinem Steg angekommen bin, ertönen gerade die ersten acht schnelleren Schläge der Trommel. Meine Reise hat insgesamt also nicht einmal fünfzehn Minuten gedauert, wobei ich die ganze erste Zeit innerlich mit mir gekämpft habe. Erstaunlich wie einem dort unten jedes Zeitgefühl abhandenkommt.
In die obere Welt nimmt mich nun der Rabe mit. Es geht darum, einen geistigen Gefährten in Menschengestalt zu finden. Der Rabe ist einfach da, bevor ich mich noch auf meine Absicht konzentrieren kann. Auf Rabenschwingen darf ich nach oben in Richtung Mitternachtssonne reisen. Die finnische Seenlandschaft sieht von oben wunderschön aus mit ihren tiefen, schwarzen Wäldern und glitzernden Seen. Dann durchbrechen wir eine dünne Schicht, wie einen Wolkenschleier. Darüber erscheint alles diffus, keine klare Landschaft wie in der unteren Welt. Alles ist in warmes Licht getaucht. Sonst sehe ich auf dieser Reise nichts. Ich kann jedoch etwas Männliches ganz nah an meiner Seite spüren. Ich fühle, wie sich mir eine Hand auf die Schulter legt. Dann höre ich eine tiefe, männliche Stimme. Sie sagt, ich solle den eingeschlagenen Weg ruhig und voller Vertrauen weitergehen, dann sei er leicht und voller Freude. Nur Ungeduld und Erwartung seien meine Hindernisse. Ich soll mich immer dem anvertrauen, was ich vorfinde, nichts hinzuerfinden und nichts hineindeuten. Mehr Regeln gibt es nicht. Nun fühle ich auch Julian an meiner Seite und frage sie, ob es gut sei, mich dieser Stimme anzuvertrauen. Sie sagt: „Ja, das ist Hor. Ihm kannst du vertrauen.“
Die Absicht unserer dritten Reise ist es herauszufinden, was unsere Aufgabe in der spirituellen Welt ist. Mein Rabe ist bei mir und kommt mir seltsam erregt vor. Durch einen hohen schmalen Spalt im Fels betrete ich eine Grabkammer. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Dann erkenne ich die Silhouette eines großen, schlanken Mannes im Priestergewand. Er ist dabei, eine Leiche einzubalsamieren. Die stickige Luft in der Grabkammer ist erfüllt von einer Mischung aus wohlriechenden Salben und Tod. Ich würde am liebsten gleich wieder gehen. Da höre ich wieder die tiefe Stimme von der vorherigen Reise und weiß, es ist Hor. In die Dunkelheit hinein sagt er: „Bleib. Du gewöhnst dich daran. Warte, bis ich fertig bin.“
Nach der Einbalsamierung wohne ich einer Zeremonie bei, bei der die Seele des Verstorbenen ins Jenseits begleitet wird. Das geschieht mit seltsamen Gesängen, geheimnisvollen Gesten und Momenten der Stille, die sich abwechseln. Mich berührt das tief. Als ich frage, was das alles mit mir zu tun hat, sagt Hor: „Du wirst die Sterbenden auf ihre letzte Reise vorbereiten und ihre Seelen hinübergeleiten ans andere Ufer.“ Ich erschaudere und spüre doch zugleich, dass es wahr sein könnte. „Warum ich? Warum ausgerechnet so eine Aufgabe?“ – „Es ist die schwerste und heiligste aller Aufgaben. Aber hab keine Angst“, sagt Hor, „diese Aufgabe kommt für dich erst sehr viel später. Dann werde ich da sein, um dich einzuweisen.“ Dann war es wohl auch kein Zufall, dass sich der Rabe, der Totenvogel, zu mir gesellt hat. Ich beginne zu ahnen, was da auf mich zukommt: Wie gut muss eine Begleiterin der Sterbenden den Tod kennen? „Keine Angst. Vertraue!“, mahnt Julian sanft. Vertrauen scheint ein zentrales Element dieser Arbeit zu sein. Vertrauen setzt Mut voraus; sich trauen. Habe ich diesen Mut?
Auf einer weiteren Reise in die obere Welt sehe ich an einem Gebirgsbach eine alte Indianerin sitzen. Sie scheint mit dem Wasser zu sprechen. Ich beobachte sie lange aus respektvoller Distanz. Zu versunken wirkt sie, als dass ich sie stören wollte. Dann überwinde ich mich sie anzusprechen und frage, was sie da macht. Sie sieht mich genauso konzentriert an wie zuvor den Bach. Ein warmer, aufmerksamer Blick ist das. Dann erzählt sie mir, dass sie mit den Steinen spricht und ihren Geschichten lauscht. Wieder schaut sie mich lange an. „Auch du bist eine Steine-Erzählerin“, sagt sie schließlich. „Das ist deine Aufgabe im Reich der Kristalle: Lass zunächst die Edelsteine und die Halbedelsteine, die sind noch nichts für dich. Geh zu den gewöhnlichen Kieseln und Feldsteinen. Die sammelst du doch so gern. Sie warten schon darauf, dir ihre Geschichten anzuvertrauen. Du wirst zuhören und aufschreiben, was sie zu sagen haben. Du darfst sie auch mitnehmen, wenn du sie vorher um Erlaubnis fragst. Danke, dass du gekommen bist.“
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Mein Versuch, meine geistigen Führer als Orakel zu missbrauchen, scheitert dagegen kläglich. „Frage nicht, was sein wird“, sagt Hor, „sondern nur, was du tun kannst.“ – „Oder lassen“, fügt Intschi mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. „Oder glaubst du etwa, dass du dem Schicksal willenlos ausgeliefert bist? So ist es nicht. Du bist hier, um deine Wirklichkeit selbst zu gestalten. Vertraue deiner inneren Führung und handle danach. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Also frag uns nicht mehr, was sein wird.“ – „Und was soll ich heute tun?“ – Meine Rabin nimmt mich mit hoch zur Mitternachtssonne. Dort wartet Hor schon auf mich: „Tu nichts, wenn du es nicht aus Liebe tust. Du musst nichts tun. Nichtstun ist völlig in Ordnung.“ – „Hor, darf ich dich noch etwas fragen? – Ich möchte gerne wissen: Seid ihr Wesen außerhalb von mir oder seid Ihr ein Teil von mir?“ – „Wir sind außerhalb von dir, und zugleich sind wir ein Teil von dir. Aber genauso bist du ein Teil von uns.“ – „Kannst du mir das erklären?“ – „Wir sind alle aus der Kraft. Wir sind Manifestationen der Kraft. Und wenn wir es zulassen, sind wir zusammen noch kraftvoller als jeder für sich allein. Das gilt für euch Menschen ebenso wie für uns geistige Wesen. Wir brauchen euch genauso wie ihr uns. Wir können nur durch euch wirken. Deshalb sind wir so glücklich, wenn ihr uns wahrnehmt und uns vertraut.“ – Ganz habe ich das noch nicht verstanden, aber meine Gefährten signalisieren mir, dass ich sie für heute genug ausgefragt habe. Also bedanke ich mich bei allen und beende meine Reise.
Ich kann es kaum noch erwarten zu fasten. Ich warte nur noch auf die ersten wärmeren Tage, weil ich beim Fasten immer so friere. Ich freue mich schon darauf, Tag für Tag ein bisschen mehr aus meinem dicken Winterpelz zu schlüpfen und Stück für Stück neu geboren zu werden – wie der Schmetterling aus seiner dicken Larve. Nicht nur der Körper wird durchgeputzt, auch die Seele. Alle Kanäle wieder auf Empfang stellen, alle Antennen auf Glück justieren. Ich will die ganze Schokolade, die mich an den langen Wintertagen über Wasser gehalten hat (danke, liebe Schokolade), aus allen Poren fasten. Ja, ich werde mit Sonnenenergie betrieben und mit Schokolade. Und mit Liebe, falls verfügbar – dann laufe ich sogar zu Höchstform auf.
Nur eine Sache möchte ich vor dem Fasten noch wissen. Die Frage beschäftigt mich schon lange, und nichts liegt näher, als sie meinen Gefährten zu stellen. Also trommle ich ein bisschen zur Einstimmung. Dann begebe mich an meinen finnischen Steg, wo meine Gefährten schon auf mich warten, und stelle meine Frage:
„Woher kommt meine völlig unangemessene Angst vor dem Verhungern, und was kann ich dagegen tun?“ Nicht nur der Wolf und die Rabin kommen diesmal an meinem Steg, sondern auch Julian und Hor. Sie nehmen mich mit auf eine ungewöhnliche Reise. Es geht weder in die obere, noch in die untere Welt, sondern auf einem horizontalen Strahl in eine andere Epoche. Wir befinden uns im Inneren eines dunklen Kerkers. Es riecht faulig und das einzige Geräusch ist das Tropfen des Wassers von den Steinen. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich in eine Ecke gekauert einen spindeldürren, bärtigen Mann, der mich mit stumpfem Blick fixiert. Ich erschrecke bis ins Mark, denn ich kenne diesen Mann und diesen Blick. Er ist mir schon mehrfach im Traum begegnet. Nach jedem dieser Träume fühlte ich mich ausgesaugt und kraftlos. Ich habe Angst vor diesem Mann. Nur die Gegenwart von Julian und Hor und den beiden Tieren gibt mir den Mut auszuharren und ihn anzusprechen. „Wer bist du?“ frage ich. – „Mein Name ist Nathan. Du kennst mich“, antwortet er mit erstaunlich klarer, kraftvoller Stimme. „Ich bin dein Ahn.“ – „Was ist mit dir passiert?“ – „Man hat mich gefoltert, in diesen Kerker geworfen und vergessen. Außer mir ist keiner mehr da. Nicht das langsame Verhungern ist schlimm. Das Vergessenwerden ist es. Das lässt mir keine Ruhe. Das Wasser, das von den Steinen tropft, hält mich am Leben – und du. Denn du kennst das Vergessenwerden.“ Dieser letzte Satz lässt mich erschaudern. Er hat recht, ich kenne das Gefühl. Als Säugling wurde ich, wenn ich geschrien habe, oft weggesperrt. Meine Eltern konnten sich wohl einfach nicht vorstellen, dass ich schon wieder Hunger habe. Meine ältere Schwester war so ganz anders gewesen. Ich dachte, dass sie mich einfach vergessen und ich nun verhungern muss.
Ich begreife, dass sich Nathan an mir festklammern und nicht loslassen wird, bis ich uns beide erlöse. Ich will nur noch fort aus diesem Kerker. Aber was kann ich tun, damit wir beide unseren Frieden finden? – „Du wirst ein Totenritual für euch beide zelebrieren – zu gegebener Zeit. Nun zu deiner zweiten Frage“, ich schaue Hor fragend an, noch ganz gefangen von dem Erlebten. „Du weißt nun, dass deine Angst vor dem Verhungern eine uralte Angst ist. Todesangst ist nur mit Todesangst zu besiegen. Gleiches wird mit Gleichem geheilt.“ – „Du machst mir Angst“, sage ich. „Keine Angst, du hast hier noch eine Aufgabe. Und denke immer daran, wir sind bei dir – viel mehr als du jetzt ahnen kannst …“
Und schon geht es weiter den Zeitstrahl entlang in eine weite Steppenlandschaft. Ein alter Bauer kommt mir lächelnd entgegen. Er zeigt mir seine winzige Hütte, in der er mit seiner Frau und seinem Vieh, Schafe und ein paar Hühner, lebt. Die Epoche ist ebenso schwer zu bestimmen wie zuvor beim Kerker. „Das Leben ist einfach, wenn der Zar weit ist“, lacht der Bauer, als er sieht, wie mein Blick über seinen armseligen Besitz wandert. – „Was hast du mir zu sagen?“ – „Du brauchst nur zu lieben“, und indem er das sagt, fasst er seiner Frau so kräftig um die Hüften, dass sie aufschreit, „zu singen und dich um deine Tiere zu kümmern. Alles Weitere findet sich.“
Weiter geht es auf dem Zeitstrahl zurück in die Urzeit des Menschseins. Eine junge Frau mit uralten Augen sitzt am Feuer und stillt ihr Kind. An der Form des Kontinents erkenne ich beim Anflug, dass es dort sein muss, wo sich heute die Sahara ausbreitet, doch zu einer Zeit, als die Wüste noch grün war. Die Frau singt vor ihrer Höhle, und ihre Botschaft an mich ist: „Singe die heiligen, heilenden Gesänge für die Lebenden und die Toten, für Mensch und Tier.“ Ich weiß zwar jetzt noch nichts von diesen Gesängen, aber ich weiß, dass ich sie zu gegebener Zeit bekommen und singen werde. Erschöpft, glücklich und dankbar lande ich wieder auf meinem Steg. Was für ein Ausflug!
Die Sicherung
Nach genauer Analyse meiner Situation traue ich mich nun festzustellen, dass sich die neuen Erfahrungen und Erlebnisse, die Stimmen, die ich höre, und die Wesen, die ich sehe, nicht als Beeinträchtigung in meinem Alltag auswirken. Im Gegenteil: Ich spüre immer besser, wann an meinem Arbeitsplatz eine kleine Korrektur notwendig ist oder gar eine neue Weichenstellung ansteht. Und ich kann meinen Vorgesetzten auch immer besser von meinen Ideen überzeugen, zumal wenn er sie dann der Geschäftsführung gegenüber als seine eigenen ausgeben darf. Seit mein Ego anderweitig beschäftigt ist, bereitet mir so etwas keine allzu großen Kopfschmerzen mehr. Der Frieden ist mir wichtiger, und wenn die Ideen umgesetzt werden, ist das für mich Anerkennung genug. Alles scheint so viel leichter geworden zu sein. Der Erfolg kommt nun fast ohne Anstrengung und ermöglicht mir neben wachsendem Ansehen auch größere Freiheiten. Die wiederum kann ich nutzen, um dem Anderen, dem Neuen, den gebührenden Raum zu geben. Meine Gefährten helfen mir, meine Arbeit schneller, erfolgreicher und mit größerer Freude und Leichtigkeit zu verrichten. Überraschenderweise tun sie dies vor allem durch Zärtlichkeit und Humor. Wenn ich mir aus ihrer Perspektive anschauen darf, wie durchsichtig und zugleich unwichtig all die kleinen Eitelkeiten und Machtspiele im Grunde sind. Oder wenn sie mich einladen, in die Haut meines Vorgesetzten zu schlüpfen, seine Versagensängste zu spüren, seine Sehnsucht nach Sicherheit und Anerkennung, dann erkenne ich darin beschämt mich selbst wieder und werde weicher und nachsichtiger, ihm und mir selbst gegenüber. Immer wieder laden sie mich ein, liebevoll über mich zu lachen und mich mit all meinen Schwächen so zärtlich anzunehmen, wie sie es tun.
Dafür öffne ich mich ihnen immer mehr und schreibe auf, was ich von ihnen empfange. Es ist ein Geben und Nehmen und eine große Bereicherung! Auch habe ich seit der Begegnung mit dem Wolf immer das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Es kommen zufällig immer die richtigen Bücher und Hinweise, die ich gerade im Moment benötige. Vielleicht, weil alles endlich eine Richtung bekommen hat, die mit meiner Seele übereinstimmt. Ich glaube, ich weiß jetzt, was Glück ist, zumindest wie es sich anfühlt: Ich erlebe dann die Welt als eine warme Fruchtblase, in der ich schwerelos schwebe, und ich weiß, dass alles genauso gut ist, wie es ist.
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Heute kommt mir alles so dunkel und leer vor. Schon beim Aufwachen lud das wolkenverhangene Zwielicht nicht dazu ein, den Tag zu beginnen. Auch am Geschrei der Krähen kann ich mich nicht erfreuen. Es klingt nach Streit. Ich bin mir fast sicher, dass ich das nur hineininterpretiere, und entschuldige mich bei den Krähen. Ich spüre förmlich die geballte Ladung Negativität, die ich ausstrahle. Ich will dennoch versuchen zu reisen. Es fällt mir unendlich schwer, mich zu konzentrieren. In meinem Kopf geht es zu wie in einem Irrenhaus. Plötzlich spüre ich, wie mir schwarze Federn langsam und gleichmäßig über das Gesicht streichen. Ah, meine Rabin hilft mir, mich zu konzentrieren. Schließlich bin ich soweit. Die Rabin holt mich ab und will mich in die obere Welt mitnehmen. Doch mitten im schwarzen Tunnel bekomme ich Angst und bestehe darauf umzukehren. Schon wieder breche ich eine Reise ab. Ich habe momentan einfach kein Vertrauen. Am besten lege ich mich jetzt in die Badewanne und lese ein einfaches Buch. Doch auch hier ärgere ich mich über das Licht, das mir grell ins Gesicht scheint und doch, wegen des Einfallwinkels, nicht wirklich zum Lesen geeignet ist. Kaum dass ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, erlischt das Licht, und ich sitze im Dunkeln. Ich koche vor Wut, muss ich mich doch nun im Dunkeln abtrocknen und anziehen und in der Küche nach Kerzen suchen. Und das Lesen kann ich nun auch vergessen. Die Sicherung kann es nicht sein, denn die elektrische Zahnbürste geht noch. Wutentbrannt montiere ich die Badezimmerlampe ab, nehme sie auseinander, überprüfe die Anschlüsse und schraube sie wieder an. Es bleibt dunkel. Was nun? Wenn ich durch meine negative Energie die Lampe dazu gebracht habe auszugehen, so muss es mir auch gelingen, sie durch entsprechend positive Energieeinwirkung wieder zum Brennen zu bringen oder?
Mit diesem Anliegen reise ich. Meine Rabin begleitet mich nach oben, wo ich zunächst gar nichts sehe. Dann höre ich eine tiefe Stimme hinter mir und weiß sofort: Das ist ein neuer Lehrer. Er tritt vor mich hin und stellt sich als Mahinda vor. Ich bin etwas enttäuscht, als ich ihn sehe, denn seine Erscheinung passt so gar nicht zu seiner attraktiven Stimme. Mahinda ist ein dicker, kahlköpfiger kleiner Mann im orangefarbenen Mönchsornat. Aber seine lachenden Augen mag ich auf Anhieb. Ich frage ihn: „Wie kann ich mein Vertrauen stärken, und wie kann ich kraft meiner Energie die Lampe wieder zum Leuchten bringen?“ Ganz gut, dass ich heute kein so wichtiges Anliegen habe, denn ich weiß ja noch nicht, ob ich diesem neuen Lehrer auch vertrauen kann. „Die Lampe ist dein Lehrer“, sagt Mahinda, „sie wird dich lehren, Geduld und Beharrlichkeit zu üben und zu vertrauen. Aber du musst wissen: Sie kann erst wieder brennen, wenn du nicht mehr willst, dass sie brennt und dein Ego nicht mehr über den Erfolg triumphiert. Du bist schon sehr gut, aber zwei Dinge machen dir das Leben schwer: deine Ungeduld und deine Selbstherrlichkeit. Selbstherrlichkeit ist das Zerrbild von Selbstvertrauen. Sie ist ein Ersatz, eine Maske. Selbstherrlichkeit kommt vom Ego, Selbstvertrauen aus der Seele, vom Urvertrauen. Lerne, dies zu unterscheiden, und lerne Geduld.“ – „Woran genau erkenne ich den Unterschied?“ – „Selbstherrlichkeit braucht immer neue Beweise. Ihr kann es nie genug sein. Selbstvertrauen braucht das nicht. Daran erkennst du den Unterschied.“
Ich sehe, wie Julian, Intschi und Hor im Halbkreis für den Neuankömmling Platz machen. Daran erkenne ich wohl, dass ich auch ihm vertrauen kann. Ich werde also Mahindas Rat befolgen und es ausprobieren. Ich betrachte es als meine erste schamanische Aufgabe in der praktischen Welt. Mal sehen, ob ich mich als Zauberlehrling bewähre. Ich werde all mein Vertrauen und meinen Glauben zusammennehmen und solange vor der Lampe meditieren, bis sie wieder brennt.
Die letzten Tage habe ich immer wieder Sitzungen vor meiner Badezimmerlampe abgehalten, um sie energetisch davon zu überzeugen, wieder zu leuchten. Nein, falsch. Ich habe versucht, mich selbst davon zu überzeugen, dass es mir nicht wichtig ist, ob die Lampe wieder brennt oder nicht. Ich habe versucht, der Lampe in absichtsloser Liebe zu begegnen. Aber ich habe mich noch nicht getraut, den Schalter zu betätigen und es auszuprobieren – aus Angst vor einer Niederlage. Gleichzeitig habe ich mich von außen betrachtet und war froh, dass mir niemand zuschaut und am Ende doch noch an meiner geistigen Gesundheit zweifelt.
Jetzt ist der große Moment gekommen: die Betätigung des Lichtschalters. Nichts passiert. Es bleibt dunkel. Was soll das? Meine Lehrer haben mich doch darin bestärkt, es so zu machen. Ich fühle mich verraten, nicht nur von der Lampe, sondern auch von meinen Lehrern, vor allem von diesem neuen, Mahinda. Er hat mir das eingebrockt! Ich finde es pädagogisch äußerst ungeschickt, mich gleich an meiner ersten Aufgabe scheitern zu lassen. Und ungerecht finde ich es auch. Ich hätte es mir doch wirklich verdient nach allem, was ich schon versucht habe. Zur Strafe werde ich jetzt ganz unschamanisch einen Elektriker rufen. Und siehe da: Der tauscht einfach die Sicherung in der Lampe aus, und schon brennt sie wieder. So einfach ist das!
Auf dieser Reise habe ich ein Anliegen! „Was sollte das Ganze?!“ Julian, Hor und Intschi sind da, und auch Mahinda ist gekommen. Alle vier können kaum noch an sich halten vor Lachen. „Wieso ärgerst du dich? Du hast das wunderbar gelöst“, sagt Mahinda, „die Lampe brennt doch wieder.“ – „Schon, aber was ist mit meiner schamanischen Aufgabe?“ – „Auch die hast du wunderbar gelöst. Du hast es immer wieder geduldig probiert.“ – „Aber ohne Erfolg!“ – „Im Gegenteil. Mit großem Erfolg. Die Lampe brennt, und du auch!“
(…)
In die Wüste
Heute kann ich mich zu gar nichts aufraffen. Draußen ist so eine seltsame Lichtstimmung, dass ich immer nur zuschauen möchte. Alles ist in ein unwirkliches, rotes Licht getaucht und ein warmer Wind weht von Süden her. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Da ich mich gerade wieder so dick und hässlich fühle und mir als Trost nichts Besseres einfällt als immer noch mehr Schokolade, mache ich dies zu meinem nächsten Anliegen: Wie kann ich mich selbst besser annehmen, sodass ich nicht mehr so viel tröstende Schokolade brauche? Meine Rabin holt mich vom Steg ab. Wir fliegen, diesmal wieder zusammen, in eine orientalische Stadt am Rande der großen Wüste. Wir finden uns inmitten einer Gruppe bunt gekleideter, teils verschleierter Frauen wieder, die mich mitnehmen in ein Badehaus. Als wir uns entkleiden, sehe ich zu meinem Entzücken, dass all diese Frauen mindestens ebenso üppig sind wie ich. Sie zelebrieren ihre Körper mit so großer Sinnlichkeit, dass es eine wahre Freude ist, ihnen dabei zuzusehen. „Das ist wahre Schönheit“, sagt die Rabin, „Es gehört Mut dazu, das zu begreifen. Du musst glauben und wissen, dass du schön bist, damit dich der Gedanke an deine äußere Erscheinung nicht von Wichtigerem ablenkt. In der Wüste wirst du viel Wichtigerem begegnen. Dann wird dich diese Frage nicht mehr beschäftigen.“ – Wieso in der Wüste?
Im Radio höre ich, dass die sonderbare Lichtstimmung heute Morgen auf einen Höhensturm zurückzuführen gewesen sei, der feinen, rötlichen Sand aus der Sahara tausende von Kilometern über das Meer und über die Berge zu uns wehte. Viele Hörer berichteten davon, dass sie am Morgen eine feine, rote Staubschicht auf ihren Autos vorgefunden hätten.
Und dann kommt doch tatsächlich eine E-Mail von Fiona, in der ein dreiwöchiges Wüsten-Trekking unter der Leitung einer südamerikanischen Schamanin angeboten wird. Sie empfiehlt mir dringend mitzureisen. Nun ja, ich kann ja mal anrufen, ob überhaupt noch ein Platz frei wäre. Ich hoffe fast, dass es nicht so ist. Aber es soll wohl sein: Denn gerade, als ich anrief, hatte eine andere Teilnehmerin abgesagt; ich könnte ihren Platz haben. – „Julian, soll ich in die Wüste?“ – Die Antwort ist” Ja”.
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So führt mich meine Reise in die Sahara und später noch in den Dschungel Südamerikas. Das größte Abenteuer aber bleibt der Alltag..